Prolog
Eine fiebrige Erregung durchzuckte seinen Leib. Olafs Jagdinstinkt erwachte und damit die Lust aufs Töten.
In zwei Minuten würde die Beute um die Ecke kommen. Zeit für das Ritual. Der Killer schloss die Augen, entspannte sich, suchte die geistige Verbindung zum Universum. Das Einkaufszentrum in Tokio war gut besucht, wie Ameisen wuselten die Menschen umher, doch ihn störte das nicht. Tief atmete er für fünf Sekunden durch den Mund ein, hielt die Luft für fünf Sekunden an, atmete fünf Sekunden aus und wiederholte den Vorgang fünf Sekunden später. Fünfmal. Seine Sinne waren geschärft, Olaf war bereit.
Der hochrangige Politiker lief nur wenige Meter neben ihm vorbei, zwei Leibwächter eskortierten ihn. Die Jagd konnte beginnen. Langsam nahm Olaf die Verfolgung auf. Er hatte Zeit. Seine Baseballmütze war tief in die Stirn gezogen, die große Sonnenbrille verdeckte den oberen Teil seines Gesichtes. Obwohl seine Augen geschlossen waren, folgte er der Beute mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Menschenmenge. Der Politiker betrat ein Spielwarengeschäft, kaufte ein Geburtstagsgeschenk für seinen kleinen Sohn. Eine männliche Barbiepuppe mit blonden strubbeligen Haaren. Die Puppe konnte sprechen. Der Politiker ließ sich das Geschenk vorführen. »Ich bin dein Freund. Komm, Spiel mit mir«, quakte die Puppe mit kindlicher Stimme in englischer Sprache. Ohne die Verpackung, nur in Geschenkpapier eingewickelt, steckte der Politiker die Puppe in eine Plastiktüte. Morgen war Geburtstag.
In großem Abstand folgte Olaf seinem Opfer. Sichtkontakt war nicht nötig. Selbst wenn der Politiker über die Rolltreppe nach unten in das nächste Stockwerk abtauchte, blieb Olaf ihm auf der Fährte. Er sah die Gedanken seiner Beute. Es war wie ein mentales Navigationssystem. Das Zielobjekt war gespeichert, hatte keine Chance zu entkommen.
Olaf spürte auch die Gedanken der beiden Bodyguards. Sie platzierten ihren Schützling in der Mitte. Es würde nichts nutzen. Die Schlagzeilen am nächsten Tag würden von einem tragischen Unfall berichten.
Für den Auftrag kassierte Olaf 100000 Euro. Doch um Geld ging es schon lange nicht mehr. Er liebte die Herausforderung. Zudem musste er im Training bleiben. Für den Auftragskiller ging es nicht darum, abzudrücken und abzuhauen. So etwas machten nur stümperhafte Laien. Olaf verglich sich mit einem Schachprofi. Geschicklichkeit und Intelligenz waren gefragt. Taktik und Strategie waren ebenso von Nöten wie Konzentration und Besonnenheit. Und er durfte keinen Respekt vor dem Gegner haben. In Olafs Fall also keinen Respekt vor der Polizei.
Über das Darknet konnten die Kunden Kontakt zu dem Profikiller aufnehmen.
Experte für Unfälle mit Todesfolge. Weltweite Einsätze
Olaf war der Teuerste, und er war der Beste.
Hier in Tokio war es sein erster Auftrag. Olaf sprach kein Japanisch, aber das war kein Problem. Die Gedankenkraft war nicht eingeschränkt von Sprachbarrieren.
Olaf Poljakow war Russe mit polnischer Herkunft. Seine Eltern wanderten nach Deutschland aus. Geboren wurde er in Köln. Er sprach perfekt Russisch und Deutsch und noch einige andere Sprachen. Er war hochintelligent und in den Köpfen anderer Menschen konnte er lesen wie in einem Buch. Telepathie war die Bezeichnung, die seinen Fähigkeiten am nahesten kam. Es war aber viel mehr als das. Er lernte, Gehirne zu manipulieren. Alle geistigen Strukturen entstanden durch neuronale Prozesse. Die freien Entscheidungen eines Menschen basierten auf dessen Hirnaktivität. Und die konnte Olaf steuern. Es war wie eine Gehirnwäsche in Lichtgeschwindigkeit, wie Hypnose in Sekundenbruchteilen. Der Russe konnte dafür sorgen, dass Frauen ihm bedingungslos verfallen waren und Männer ihm bereitwillig ihre Geschäftsgeheimnisse anvertrauten.
Als er 25 Jahre alt war, machten ihm die Mordaufträge zum Millionär. Als er 30 Jahre alt war, entschied er sich für das Doppelleben. Als er 35 Jahre alt war, erkannte er seine Bestimmung in dieser Welt. Dagegen war ein Auftragsmord ein Wassertropfen im Pazifik. Zum Töten brauchte er kein Messer und keine Schusswaffe. Seine Waffe war die Gedankenkraft. Sie würde bald tödlicher sein als alles, was die Menschheit kannte. Sie würde stärker sein als jede nukleare Waffe. Bald, wenn er stark genug war.
Olaf war ein Pharao der Neuzeit, ein Hohepriester, ein Kaiser, ein Gott. Mit seinen Fähigkeiten war er jedem Menschen überlegen. Für seine Bestimmung war er allerdings noch nicht mächtig genug. Noch nicht, denn seine Aufgabe war biblischen Ausmaßes.
Der Politiker lief im Schutz seiner Bodyguards aus dem Shoppingcenter zur U-Bahn Station.
Am Vortag hatte Olaf eine Rede des Politikers besucht. Dort pflanzte er den heutigen Plan, also den Kauf des Geschenks und die anschließende U-Bahn-Fahrt, in den Kopf des Opfers. Die exakte Uhrzeit programmierte Olaf genauso in das Hirn wie den Weg, den das Opfer nehmen sollte. Die Manipulation war so mächtig, dass der Politiker sogar einen wichtigen Termin absagte. Es wäre ein Leichtes gewesen, dem Politiker zu befehlen, ohne Leibwächter zu gehen. Doch Olaf wollte spielen, so wie die Sprechpuppe. »Ich bin dein Freund. Komm, spiel mit mir«
Die drei Männer fuhren mit der Rolltreppe tief hinunter in die U-Bahn-Station. Hinunter ins Grab des Politikers.
Der Boden der Station war weiß gekachelt. Eine genoppte Fliesenreihe war gelb angemalt. Es war ein Blindenleitsystem. Kaltes Neonlicht erhellte die Station.
Die drei Männer liefen ganz nach vorne, direkt vor den Tunnel, wo die U-Bahn noch am schnellsten fahren würde. So, wie Olaf es befohlen hatte. Es war lange her, dass der Politiker ein öffentliches Verkehrsmittel benutzte. Deswegen waren die Leibwächter erstaunt, als sie von dem Plan erfuhren. Und alarmiert. Schließlich ist es um ein Vielfaches schwieriger, Personenschutz in einer U-Bahn zu gewähren als in einer gepanzerten Limousine.
Olaf verringerte den Abstand. Etwa 80 Menschen warteten in der Station. Darunter zwei Frauen mit pechschwarzen Haaren in hübschen weißen Kimonos. Rote Blumenmuster zierten die außergewöhnlich hübschen Kleidungsstücke.
Die nächste U-Bahn sollte in zwei Minuten kommen. So wurde es auf der elektronischen Tafel angezeigt. Über den Lausprecher wurde die Anzeige in blecherner Frauenstimme auf Japanisch und auf Englisch bestätigt. Lautes Stimmengewirr hallte durch die Station. Sanft erwachte das unheilvolle Dröhnen der U-Bahn, die gleich einfahren würde.
Olaf setzte sich auf der Bank in der Mitte der Station. Er konzentrierte sich. Zuerst auf die Leibwächter. Die beiden Beschützer wurden unruhig. Sie sahen plötzlich einen verdächtigen Mann neben einer der vielen Betonsäulen stehen. Einen Japaner, der den Politiker verstohlen anstarrte. Die Leibwächter stellten sich zwischen dem Verdächtigen und ihrem Schutzbefohlenen.
Das Licht im Tunnel wurde größer. Die U-Bahn rauschte heran. Das Rumoren erwachte zu bedrohlichem Dröhnen. Die Eisenräder quietschten und ratterten über die Gleise und erzeugten einen Donnergesang. Der Boden erzitterte, ein Luftstoß wehte aus dem Tunnel in die Haltestelle. Die Bodyguards ließen den Verdächtigen nicht aus den Augen.
Olaf nahm sich nun sein Opfer vor. Der Politiker fasste sich an den Kopf, ihm wurde schwindlig, er torkelte. Olaf kontrollierte ihn so, wie ein Puppenspieler seine Marionette an den Strängen kontrollierte. Die Marionette hatte keine Chance auf Selbstbestimmung. Es war das erste Mal, dass Olaf mehrere Gehirne auf einmal kontrollierte. Es war in Experiment. Olaf liebte Experimente. Einer der beiden Bodyguards steckte die Hand unter seine Jacke an den Griff der Pistole. Sie dachten, die Gefahr ginge von dem Mann an der Säule aus. Sie fokussierten sich auf den vermeintlichen Attentäter und erkannten nicht die Falle.
Der Politiker torkelte Richtung Gleise. Dann donnerte der gelbe, eckige Triebwagen wie ein übermächtiges Monster in die Haltestelle. Mehrere hundert Tonnen Stahl ließen die Luft erbeben. Die Bremsen quietschten, das Stahlmonster wurde langsamer, war aber immer noch schnell.
Der Politiker verlor das Bewusstsein, stürzte. Genau an die fordere Kante des einfahrenden Zugs. Er wurde von dem Stahlkoloss erfasst. 100 Tonnen harter Stahl gegen 80 Kilogram weiches Menschenfleisch. Ein ungleiches Duell.
Der Körper des Politikers rutschte zwischen den drei Zentimeter breiten Spalt. Das Trittgitter am Bahnsteig sollte verhindern, dass jemand zwischen Zug und Plattform fallen konnte. In dem Spalt wurde der Körper des Politikers zerrieben wie eine Fliege zwischen den Handflächen.
Blut spritze, und Gehirnmasse. Die Kimonos der beiden entsetzten Frauen wurden vollgespritzt. Es passte zum Muster. Die Barbiepuppe flog aus der Plastiktüte auf den Boden. Sie sprach. Niemand konnte es in der Aufruhr hören, Olaf aber schon. »Ich bin dein Freund. Spiel mit mir.« Entsetzte Schreie hallten durch die Station, Panik brach aus. Viele Frauen hielten im Schock ihre Hände vor den aufgerissenen Mündern. Die Bodyguards blickten entsetzt über ihre Schultern, sahen Überreste ihres Schutzbefohlenen. Der linke Unterarm des Politikers lag auf dem gelbgenoppten Blindenstreifen, der Ehering glänzte im Neonlicht am Ringfinger. Die Finger bewegten sich, zogen den Unterarm an den Noppen vorwärts. Teile von Darm und Magen klebten auf dem Trittgitter, schleimige Flüssigkeit, durch das Blut verdünnt, tropfte zäh durch die schmalen Gitteröffnungen. Polizisten waren plötzlich da, schrien Kommandos.
Es war wunderbar. Olaf atmete in tiefer Befriedigung aus und genoss das Chaos. Wie schön es doch war, Menschen zu töten. Fast so schön wie foltern. Der nächste Meilenstein war gelegt. Nun konnte er mehrere Marionetten gleichzeitig lenken. Nicht mehr lange, dann würde er die kollektive Gehirnwäsche beherrschen. Nicht mehr lange.
Olaf stand auf, schlenderte mit seinen Händen in den Hosentaschen langsam zur Rolltreppe und fuhr nach oben.
Wegen der tiefstehenden Nachmittagssonne war die eine Hälfte der Straße in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Ärzte und Sanitäter rannten an ihm vorbei zur Rolltreppe. Den Einsatz hätten sie sich schenken können.
Das Rettungsteam wurde von der Sonne angestrahlt, Olaf nicht. Er lächelte. Das Lichtspiel erinnerte ihn an sein perfektes Doppelleben. Eines führte er im Schatten, eines im Licht. Das im Licht, das war ein Gutes, das im Schatten aber nicht.