Kapitel 12

Arabisches Meer, 17. Februar 2010

Sie wussten, in welchen gefährlichen Gewässern sie sich bewegten und sie hätten es vermeiden können. Warum nur haben sie trotzdem das Risiko auf sich genommen?
Mit über 20 Knoten trieb der salzgeschwängerte Seewind sie vorwärts und das Wasser rauschte gurgelnd an den Seiten des Segelbootes entlang. Aphrodite pflügte sich bockend durch das Wasser, und wenn der Bug in ein Wellental einstampfte, spritzte schäumende Gischt über das Vordeck.
Das Ehepaar saß im geschützten Cockpit der Amel 54, ein moderner, knapp 17 Meter langer Zweimaster. Nach der dreijährigen Weltumseglung freuten sie sich auf Hamburg, auf ihre Heimatstadt.

Vor zwei Wochen trafen sie ihren Entschluss. Sie lagen in einer Bucht von Sri Lanka vor Anker, als sie ihre Reiseroute festlegten. Dieter Paulsen stützte sich damals mit beiden Händen auf die Seekarte, als er mit seiner Frau sprach:
„Liebling, wir müssen uns entscheiden. Segeln wir nach Süden ums Kap der Guten Hoffnung? 12000 Seemeilen, den ganzen Weg um Afrika herum? Oder nehmen wir die Abkürzung durch den Suezkanal?“
„Die Route um Afrika sieht verdammt lang aus. Wie lange brauchen wir dafür?“, fragte Manuela.
„Wenn wir nicht zu viele und zu lange Zwischenstopps einlegen, sind wir etwa sechs Monate unterwegs.“
„Und wie sieht es mit der Abkürzung aus?“
„Deutlich weniger als die Hälfte der Strecke und damit deutlich weniger als die Hälfte der Zeit.”
Manuela legte ihre Hand auf seinen Arm. „Schatz, ich möchte so schnell wie möglich nach Hause. Drei Jahre auf den Weltmeeren sind mir genug.“
„Aber es ist gefährlich. Schau her, so sieht die kurze Strecke aus.“ Mit seinem Zeigefinger zog er den Kurs auf der Karte nach. Von Sri Lanka erst nach Westen, nördlich vorbei an den Malediven, dann 1600 Meilen durch offenes Meer in den Golf von Aden und durch das Rote Meer bis zum Suezkanal. Sein Finger klopfte auf die Gewässer vor der Küste Somalias.
„Und hier liegt das Problem. Wir müssen etwa 1000 Meilen durch piratenverseuchtes Wasser segeln.“
„Wirklich ungefährlich ist die Strecke ums Kap der Guten Hoffnung auch nicht.“
„Nun ja, das Gefahrenpotenzial in den somalischen Gewässern ist um ein Vielfaches höher.“
„Dieter!“ Sie hatte diesen flehenden Blick in ihren Augen. “Nach drei Jahren auf See will ich nur noch nach Hause.“
Er küsste seine Frau auf die Stirn. „Komm schon Süße, ein paar Monate mehr machen uns doch jetzt auch nichts aus.“
„Findest du?“
Schweigen breitete sich aus und während das Segelboot leicht in der Dünung schaukelte, schauten sie gedankenversunken auf die Karte. Zeit stand gegen Sicherheit.
Dann klopfte Manuela Paulsen mit der flachen Hand auf die Karte.
„Ich hab die Lösung.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Lass es uns machen, wie sonst auch.“ Ein verschmitztes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie im Schubfach unter dem Navigationstisch nach etwas kramte. Dann zog sie die Ein-Euro-Münze heraus. Es war eine ganz bestimmte Münze. Es war die Münze, die ihnen schon oft eine Antwort gegeben hatte.
Dieter zog skeptisch seine Augenbrauen hoch. „Du willst unser Schicksal tatsächlich der Münze anvertrauen?“
„Klar, die Vorsehung hat ja bisher auch immer gut auf uns aufgepasst.“
Sie warf die Münze zu Dieter, der sie lässig auffing. „Adler steht für die Abkürzung durch den Suezkanal, Zahl für den Umweg über Südafrika“, sagte sie aufgeregt.
Dieter nickte, setzte die Münze mit ihrem Rand auf den Tisch und schoss die Münze mit schnalzendem Finger in eine rotierende Bewegung. Der Klang der schnell drehenden Münze auf dem glatten Holztisch kratzte an ihren Nerven. Das durch ein Bullauge einfallende Sonnenlicht reflektierte sich in dem Geldstück und beide stierten sie blinzelnd auf den Tisch. Dieter hoffte inbrünstig, dass er in wenigen Augenblicken die Eins sehen würde. Manuelas Gefühle waren zwiespältig. Sie hatte zwar Angst vor dem Adler, wollte aber auch nicht die lange Route über Südafrika nehmen. Dieses Geldstück war ihr Glücksbringer und hatte sich bisher gut bewährt. Warum sollte es jetzt anders sein?
Der Klang der rotierenden Münze wurde heller, sie wurde langsamer und fiel endlich um.
„Adler!“, sagte Dieter trocken. Er musste schlucken. Seine Stimme konnte das ungutes Gefühl nicht verstecken.
„Komm schon Liebling“, flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr. „Du weißt genauso gut wie ich, dass die Meldungen der Piratenüberfälle überbewertet werden. Panikmache in der Öffentlichkeit. Nicht wirklich relevant für uns.“
„Ich hoffe, du hast recht.“
Am nächsten Tag tuckerten sie mit dem Beiboot an Land um Proviant einzukaufen, und einen weiteren Tag später ratterte die Ankerkette an Bord. Sri Lanka verschwand langsam hinter ihnen am Horizont. Das war vor zwei Wochen.

Der Adler hatte sich durchgesetzt, und nun befanden sie sich mitten im gefährlichsten Gewässer der Welt. Schon seit Tagen wurde Dieter immer nervöser und nun musste er seiner inneren Stimme Luft machen.
„Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir sollten umkehren und erst einmal die Malediven ansteuern.“
„Umkehren? Weißt du nicht, dass es Unglück bringt, wenn wir nicht der Vorsehung folgen?“
„Ach, Manuela. Scheiß auf die Vorsehung. Es ist bescheuert, was wir hier tun.“
Manuela funkelte ihn wütend an. „Was bist du nur für ein Feigling. Du warst doch sonst nicht so ängstlich.“
„Spinnst du? Das hat doch nichts mit Feigheit zu tun. Aber gut, wenn du darauf bestehst, dann halten wir an dieser verdammten Vorsehung und an dem Kurs fest. Ich hoffe nur, dass wir nicht unser blaues Wunder erleben.“
Die folgenden Stunden verbrachten sie beide in beleidigtem Schweigen. Dieter nahm immer wieder das Fernglas und beobachtete den Horizont. Dann, es war früher Nachmittag, sah er sie kommen.
„Verdammt! Das sieht nicht gut aus.“
„Was siehst du?“, fragte Manuela nervös. Dieter zeigte wortlos schräg nach hinten.
„Ein Fischkutter? Dieter, das sind normale Fischer, oder?“ Hoffnung und Zweifel lagen in ihrer Stimme.
„Warum hat ein Fischkutter zwei Schnellboote im Schlepp? Und warum fährt ein Fischkutter mit Vollgas auf uns zu?“
Entsetzt legte sie die Hand über ihrem Mund, während Dieter schon nach unten kletterte. Neben dem Navigationstisch war das Funkgerät eingebaut. Hektisch machte er sich ein paar Notizen auf ein Schmierblatt, dann nahm er das Mikrofon in die Hand.

„MAYDAY, MAYDAY, MADAY“