Kapitel 16

16
Bad Kissingen, 12. April 2014

Die Gewissheit, dass sie ihm nicht entkommen konnte, gab Igor das berauschende Gefühl von Macht und Überlegenheit. Ein angenehmes Kribbeln kitzelte in seinem Magen, ein unterschwelliges Vibrieren durchströmte seinen Körper. Es war das Gefühl des Jägers, der nach langer Suche endlich die Witterung seiner Beute aufgenommen hatte.
Diese Jagd war aber etwas Besonderes, denn diesmal kam eine emotionale Bindung hinzu. Die enge Verbundenheit zu der Nonne machte diese Jagd einzigartig.
In wenigen Minuten würde er ihr seit fast 400 Jahren zum ersten Mal wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Trotzdem war er nicht aufgeregt. Lässig lehnte er an einer der weißen Säulen und schaute über die Brüstung des Balkons hinunter in die Menschenmenge.
Lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Das Pack drängte ins Eingangsfoyer und auf die Galerie.
Im Städtchen Bad Kissingen war die Welt in Ordnung. Geringe Kriminalität, kaum Morde. Der spektakulärste Fall war 140 Jahre her: Da hatte ein Attentäter auf den Reichskanzler Otto von Bismarck geschossen – ein Stümper, denn Bismarck hatte überlebt.
Igor betrachtete das riesige Fresko an der Decke. Es stellte den Sänger Orpheus in einer afrikanischen Landschaft dar. Dicht bewachsene Laubbäume säumten die weite Lichtung. Der Löwe im Gras wirkte entspannt, so wie Igor. Orpheus und einige Beutetiere standen auf der Lichtung. Sie schienen die Gefahr nicht zu erkennen, so wie die Nonne.
Der angeklebte Vollbart spannte auf der Haut, es wurde heiß unter der Perücke, die getönte Brille mit dem spiegelnden Glas drückte auf die Nase. Doch lange würde Igor die Verkleidung nicht mehr tragen müssen.
Er zog sein Handy aus der Hosentasche, tippte auf die selbst entwickelte App und schaute auf den Bildschirm. Unter dem Menüpunkt ‚iPhone-Suche‘ konnte er die GPS-Position ihres Handys orten. Sie war noch einen Steinwurf entfernt, gleich würde sie durch die Flügeltüren in das Foyer kommen.
Igor steckte das Handy weg, beobachtete die hereinströmende Menschenmenge.
Da war sie, schob sich langsam im Gedränge durchs Foyer. Keine zehn Meter trennten sie nun. Durch die Vergrößerungsfunktion seiner Brille konnte er sogar ihre grünen Augen und die Stirnnarbe erkennen. Die Nonne steckte in der Menschenmenge, die langsam wie ein Lavastrom in das Foyer quoll. In ihrem Gesicht stand Abneigung, gar ein Hauch von Abscheu. Hanna Engels, wie sich die Nonne nun nannte, schien sich unwohl zu fühlen.
Sie kramte ihr Handy aus der Tasche, hielt es ans Ohr, nickte, sprach gelegentlich. Plötzlich passierte etwas völlig Unerwartetes. Die Nonne wurde nervös. Sie steckte das Telefon weg, strich immer wieder mit hektischer Bewegung über ihr linkes Ohr und schaute sich gehetzt um. Ihr Gesicht war verzerrt. Ihr Blick wanderte nach oben auf die Galerie, streifte an Igor vorbei, kam zurück, fixierte ihn mit aufgerissenen Augen. Erkannte sie ihren Mörder? Witterte das Luder die Gefahr?
Igor war fasziniert. Er ging einige Schritte zurück, verschwand in der Menschenmenge. Sie sollte noch lange nicht wissen, dass sie gejagt wurde.
Hatte sie tatsächlich so etwas wie einen sechsten Sinn und spürte die Bedrohung durch seine Gedanken? Igor würde es herausfinden.
Er ging auf die Toilette und schloss die Tür hinter sich. Lächelnd strich Igor über seinen falschen Bart. Mit einem kräftigen Ruck riss er in ab.