Kapitel 20

Nördlich von Frankfurt, Sonntag, 30.03. 2014
20
Frankfurt, 28. April 2014

Fast Neumond. Die Nacht war stockfinster. In dem schwarzen Overall verschmolz Igor mit dem Gebüsch. Die leichte Anspannung schärfte seine Sinne. Der herbe Geruch des Busches strömte in seine Nase, er spürte die Blätter auf seinem Gesicht. Eine Frau lachte in der Nähe, eine Autotür wurde zugeschlagen. Aus der Ferne erklang das leise Dauerbrummen der Autobahn. Ein Flugzeug war im Anflug. Es hatte wohl Verspätung, denn es war bereits nach 23 Uhr und die Nachtflugbeschränkung am Frankfurter Flughafen war aktiv.
Er nahm sein Handy und öffnete die Tracking-App. Sie zeigte die Position der Wanze an dem Fahrzeug. Zusätzlich überprüfte er die Handy-Ortung. Weit genug weg. Zufrieden nickte Igor. Er würde den Innenangriff ungestört durchführen können.
Lautlos schlich er weiter.
Über die Außenkamera, die Igor vor über einer Woche im Garten installiert hatte, konnte er sehen, dass die Tür zur Terrasse immer nur zugezogen, aber nie abgeschlossen wurde. Es war wie eine Einladung.
An dem Zaun hielt er inne. Das Gebäude lag keine zwanzig Meter vor ihm im Dunkeln. Igor schmiss den schwarzen Rucksack über den Zaun. Mühelos zog er sich an dem Pfosten hoch und geschmeidig setzte er auf der anderen Seite im Gras auf. Im Weiterlaufen griff er nach seinem Rucksack.
Im Nachbarhaus wurde mit lautem Scheppern das Rollo heruntergelassen. Igor kannte auch diese Bewohner inzwischen fast so gut wie die Zielperson. Die vierköpfige Nachbarsfamilie durchlebte eine schlimme Zeit. Vor allem die beiden Teenager heulten Rotz und Wasser. Ihr geliebter Labrador war vor zwei Tagen qualvoll verreckt. Vergiftet. Welch bösartiger Mensch konnte so etwas Grausames tun? Igor schmunzelte. Tja, das Leben konnte scheiße sein. Jetzt musste er nicht mehr fürchten, dass der Köter anschlug.
Inzwischen war Igor fast im Sensorbereich des Bewegungsmelders für das Außenlicht angekommen. Er duckte sich hinter den Holzstapel, zog die Laserpistole und die Nachtsichtbrille mit zuschaltbarer Infrarotbeleuchtung aus dem Rucksack. Der 200 Milliwatt Visierstrahl würde mit bloßem Auge nicht zu sehen sein. Er stülpte sich das Nachtsichtgerät über, zielte und drückte ab. Der Laserstrahl brannte im Bruchteil einer Sekunde ein kleines Loch in das transparente Plastikgehäuse der Außenlampe. Die Glühlampe dahinter zerbarst in einem leisen ‚Plopp‘.
Während er zur Terrasse schlich, zog er die Handschuhe über. Sie waren so dünn, dass sie sich wie eine zweite Haut anschmiegten und die Bewegungen kaum einschränkten. Aus dem Rucksack holte er die Teleskopleiter, zog sie aus und lehnte sie an die Fassade.
Die vier Stufen reichten, um bequem an die Wandlampe zu kommen. Er stellte die eingebaute Lupenfunktion seiner Nachtsichtbrille auf zweifache Vergrößerung. Mit einem Schraubendreher löste er die beiden Schrauben des Gehäuses und nahm den Lampenschirm ab. Der Ministaubsauger, mit dem er die Glassplitter der zerschossenen LED-Lampe aufsaugte, arbeitete fast geräuschlos. Igor setzte eine Lampe ein, deren Glühdraht schon durchgebrannt war, und holte den gebrauchten Lampenschirm einer baugleichen Außenlampe aus dem Rucksack. Über eBay hatte er das Ersatzteil gekauft. Niemand würde nun erkennen, dass die Glühlampe zerschossen wurde.
Nachdem er das Nachtsichtgerät im Rucksack verstaut hatte, klopfte und streifte er seinen Overall gründlich ab. Mögliche Reste von Gras und Blätter sollten nachher nicht zu finden sein. Er presste die gehärtete und geplättete Titannadel zwischen Türblatt und Rahmen im Bereich des Schließzylinders. Gefühlvoll drückte er mit der abgewinkelten Nadel den Schnapper zurück ins Türblatt. Die Tür schwang auf. Bevor er eintrat, holte er die dünnen Ledermokassins aus dem Rucksack und wechselte die Schuhe. Auf weichen Sohlen schlich er hinein. Er installierte die winzigen Spionagekameras, die kaum größer waren als eine Knopfbatterie. In jedem Rauchmelder versteckte er eine. Um die Batterien zu schonen, würden die Kameras nur bei Bewegung aufzeichnen und somit erst in zwei bis drei Monaten den Geist aufgeben. Bis dahin sollte alles vorbei sein. Eine Kamera versteckte er im Lampenschirm der Deckenlampe und eine weitere in der Wandlampe. Er versteckte auch drei Wanzen. Zwei davon sahen aus wie ein Kugelschreiber, davon lagen genug herum. Das dritte Aufzeichnungsgerät platzierte er in dem digitalen Wecker. Nach weiteren zehn Minuten hatte er auch den zweiten Teil seiner Mission beendet und arbeitete seine mentale Checkliste ab.
Habe ich alles, was ich brauche?
Ist alles wieder an seinem Platz?
Sind die Wanzen und Kameras einsatzbereit?
Keine Spuren hinterlassen?
Alles eingepackt?
Leise schlüpfte Igor durch die Terrassentür nach draußen. Er wechselte die Schuhe, kletterte über den Zaun und ging zurück zu seinem Wagen.
Als er einige Zeit später an seinem Schreibtisch saß, öffnete er Laptop Nummer 1 und notierte den Einbruch in sein elektronisches Tagebuch.
Es war eine aufregende Jagd. Noch nie war Igor seiner Beute vor dem Finale so nahegekommen.
Er klappte den Laptop zu und lehnte sich zufrieden zurück. Die Vorbereitungen waren nun abgeschlossen. Zwei Komponenten gingen Hand in Hand. Überwachung und Täuschung. Wie eine Katze spielte er mit der Beute.