Kapitel 1

Nigeria, 19. Dezember 2013

„Sie sind verrückt.“ Kobe Ayodele, Chefredakteur der Lagos- Tribune, schüttelte entsetzt seinen Kopf.
„Nein, ich bin Journalistin“, sagte Hanna genervt.
„Das ist den Rebellen egal. Auf keinen Fall dürfen Sie jetzt in den Norden fahren.“
„Es ist schon entschieden. Wir werden uns noch heute auf den Weg machen.“
Ayodele schüttelte den Kopf. „Verschieben Sie die Sache.“ „Warum sollte ich das tun?“
Ayodele lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und sprach in wohlwollendem Ton weiter.
„Vor einer Woche wurde Saleh Ibrahim, der Anführer von Boko Haram, erschossen.“
„Ich bin über die Vorgänge informiert.“
„Seine Nachfolge ist nicht geklärt, die Situation ist außer Kontrolle geraten.“
„Wann war die Situation jemals unter Kontrolle?“
„Für eine Frau ist es im Moment im Rebellengebiet extrem gefährlich.“
„Für eine Frau? Also gut. Dann gehen Sie eben zu den Re- bellen und machen die Reportage.“
„Ich bin doch nicht wahnsinnig. Die Boko Haram schlagen Köpfe und Hände ab.“
„Gerade deswegen muss ich dort hin. Nur so kann ich den unterdrückten Frauen helfen.“
Ayodele schüttelte verständnislos den Kopf. „Mit einer Re- portage werden Sie die Rebellen nicht aufhalten.“
„Ich nicht, aber vielleicht die UN oder die nigerianische Ar- mee. Dazu muss aber zuerst die Öffentlichkeit von dem Problem wissen. Die Welt darf keine Chance haben, wegzuschauen. Mit meinen Beweisen setze ich die Politik unter Druck.“
„Sie glauben tatsächlich, Sie können am Schicksal der Frauen etwas ändern.“
„Ja. Verdammt nochmal. Ja!“ Hanna beugte sich nach vorne. „Oder haben Sie eine bessere Idee?“
„Es nutzt niemandem, wenn auch Sie verscharrt werden.“
„Wir stehen unter dem Schutz einer waffenstrotzenden Militäreskorte. Uns wird nichts passieren.“
„Das ist ein trügerischer Schutz. Fast täglich wird inzwischen auch das Militär von den Rebellen angegriffen.“
Hanna fühlte den klebrigen Schweiß unter ihren Achseln. „Warum schalten Sie die Klimaanlage nicht an?“
„Stromausfall. Schon wieder. Der Generator reicht nur für die Kommunikationsgeräte.“
Hanna strich sich die Haare hinters Ohr zurück. „Jedes Jahr werden Hunderte junge Mädchen von den Rebellen ver- schleppt und zwangsverheiratet. Die Mädchen werden vergewaltigt, zu Terrorsoldaten abgerichtet oder zu Selbstmordattentaten gezwungen. Die Welt muss …“
„Ich weiß, Miss …“
„Die Welt muss von den Gräueltaten der islamistischen Ext- remisten erfahren. Ich muss handeln, sofort. Mit meiner Reportage werde ich die Politiker zum Handeln zwingen.“
„Ohne Ihren Kopf werden Sie niemanden zwingen.“
„Wir sind nicht die Feinde der Rebellen, sie werden kein Interesse an unserem Tod haben.“
„Das hier ist nicht Deutschland. In Nigeria herrschen andere Regeln.“
„Wir wollen die Rebellen ja nicht angreifen, sondern nur mit ihnen reden.“ Hanna stieß frustriert die Luft aus.
„Die Boko Haram töten Sie vielleicht trotzdem.“
„Ach ja? Und warum sollten sie das tun?“
„Weil sie es können.“
Für einen Augenblick war Hanna irritiert. Sie schaute den Chefredakteur ungläubig an. „Blödsinn.“
„Oder man verschleppt Sie. Europäer sind beliebte Geiseln. Lösegeld war schon immer eine gute Option.“
„Deswegen haben wir die eingenähten GPS-Minisender.“
„Die Ihnen aber nur helfen, wenn Sie Ihren Kopf noch auf den Schultern tragen.“
Was für ein Feigling. Am liebsten hätte Hanna dem Chefredakteur den Hals umgedreht. „Sie hatten mir am Telefon Ihre Unterstützung zugesagt.“
Ayodele fuhr sich mit der Hand über sein krauses Haar. „In einem Monat sieht es bestimmt besser aus. Warten Sie noch ab.“
„Das ist unmöglich.“
„Warum?“
„Der stellvertretende Innenminister Mister Nwobeabia hat eine Bedingung gestellt.“
„Eine Bedingung kann man nur stellen, wenn man im Gegenzug etwas bietet.“
„Die Eskorte ist umsonst.“
Ayodeles’ Kinnlade klappte auf. „Was? Sie sagten mir doch noch vor einem Monat am Telefon, dass die Militäreskorte eine Million US$ kostet.“
„Stimmt. Doch mein Chefredakteur hätte dem niemals zugestimmt. Ich habe immer wieder bei Mister Nwobeabia nachgebohrt. Letztendlich hat er eingesehen, dass mein Artikel auch für Nigeria von großem Vorteil sein könnte.“
„Was ist die Bedingung?“
„Der Einsatz muss innerhalb von vier Wochen abgeschlossen sein. Von diesem Ultimatum ist schon über eine Woche verstrichen. Ich habe also keine Zeit zu verlieren, wenn ich die Eskorte umsonst haben will.“
„Miss Engels. Das stinkt zum Himmel. Hier in Nigeria macht niemand etwas umsonst.“
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein hochrangiger Politiker oder das Militär uns den Rebellen ausliefern werden.“
„In Nigeria ist alles möglich.“
„Mister Ayodele, stehen Sie zu Ihrem Wort und helfen Sie mir?“
Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Schweißränder waren auf dem weißen Hemd unter seinen Achseln zu sehen. Er musterte sie kritisch und schien zu überlegen.
Das Tischtelefon klingelte.
„Augenblick.“ Ayodele nahm den Hörer ab und sprach in seiner Landessprache.
Hanna lief zum Fenster, stieß es weit auf. Der heiße Wind wehte ihr ins Gesicht. Monatelang hatte sie für ihren Plan ge- kämpft. Ihr Chefredakteur zu Hause in Frankfurt war strikt dagegen gewesen. Viel zu gefährlich, viel zu teuer, hatte er im- mer wieder gesagt. Doch Hanna hatte ihren Willen durchge- setzt. Nichts und niemand konnte sie noch aufhalten. Wenn nötig, würde sie die Sache eben ohne die Hilfe von Kobe Ayodele durchziehen. Zum Teufel mit ihm.
Der Straßenlärm weckte Hannas Neugier. Aus dem fünften Stock hatte sie einen guten Überblick. Hupende Autos kämpften sich in Schrittgeschwindigkeit durch die verstopften Straßen, ein empörter Fahrer machte seinem Ärger lautstark Luft. Überall lag Müll. In einem Graben war eine Leitung aufgebrochen. Wasser sprudelte, Kinder spielten in dem Schlammloch. Zwischen den schreienden Straßenhändlern, den schimpfenden Passanten und den bettelnden Kindern sah Hanna Frauen in schönen bunten Kleidern. Es stank nach süßlicher Fäulnis, die Stimmung war chaotisch und aggressiv. Doch von der Bedrohung durch die Rebellen war hier in Lagos nichts zu spüren.
Drei Militärfahrzeuge kamen angefahren und stoppten vor dem Gebäude. Robert stieg aus dem mittleren Jeep. Hanna pfiff laut durch die Finger. Er schaute zu ihr hoch, lächelte, winkte und klopfte auf seine Uhr. Bestimmt ging es den Solda- ten zu langsam. Hanna nickte und zeigte den Daumen.
Sie hatte ihren alten Schulfreund Robert Schäfer zu dieser Reise überredet. Er war selbstständiger Fotograf und hoffte, durch die Story seinen Bekanntheitsgrad zu steigern.
Als Ayodele das Telefongespräch beendet hatte, ging Hanna mit zügigen Schritten zum Schreibtisch zurück und stützte ihre Hände in die Hüften.
„Mister Ayodele, wenn Sie mir Ihre zugesagte Unterstützung verweigern, wird es umso gefährlicher für mich und meinen Kameramann. Aber ich lasse mich weder umstimmen noch aufhalten. Nun frage ich Sie ein letztes Mal. Werden Sie zu Ihrem Wort stehen?“
Er schaute sie mit großen Augen an.
„Ja“, sagte er schließlich. „Ich stehe dazu. Meine Redaktion ist 24/7 besetzt und damit wird auch der GPS-Empfänger und das Satellitentelefon rund um die Uhr überwacht.“
Hanna nickte zufrieden. „Danke.“
„Vertrauen Sie nicht dem Militär“, warnte Ayodele. „Einige Offiziere sind korrupt.“
„Ich weiß. Deswegen ist es mir ja wichtig, der Presse die Überwachung zu überlassen. Wie wir schon besprochen hatten, melden wir uns jeden Abend um 18 Uhr über Satellitentelefon.“
„Und wenn wir nichts von Ihnen hören, informieren wir den Oberst, den stellvertretenden Innenminister und die deutscheBotschaft.“
„Genau.“ Erleichtert zog Hanna das GPS-Empfängergerät und das Satellitentelefon aus dem Rucksack und gab die Sachen dem Chefredakteur. „Wie Sie sehen, sind wir gut vorbereitet.“
„Miss Engels, Sie haben keine Ahnung von Nigeria.“

*

Kurz darauf traf sich Hanna in der Eingangshalle mit Robert. „Hat alles geklappt?“, fragte sie.
„Ja. Die Soldaten haben mich vom Hotel abgeholt. Ausrüstung und Gepäck sind eingeladen.“
„Nur drei Autos? Soll das die ganze Eskorte sein?“
„Nein. Der Rest des Konvois wartet in der Kaserne. Der Major ist stinksauer, sagen die Soldaten. Der Umweg über die Zeitungsredaktion war nicht eingeplant gewesen.“
Hanna zuckte mit den Schultern. „Es ging nun mal nicht an- ders. Der Chefredakteur hatte erst jetzt Zeit für mich.“
„Überwacht er die GPS-Sender und das Telefon?“
„Ja.“
Ein Soldat kam zu ihnen geeilt. „Hurry up.“
Hanna und Robert folgten ihm nach draußen. In ihrer Buschkleidung unterschieden sie sich nicht allzu sehr von den Soldaten. Beide trugen sie beigefarbene Cargohosen und tarnfarbene langärmlige Hemden.
„Es war eine bescheuerte Idee von mir, die Kampfstiefel heute schon anzuziehen.“ Hanna fühlte den Schweiß an ihren Füßen. „Auf Schlangen werden wir in Lagos kaum treffen.“
„Wahrscheinlich nicht.“ Robert grinste. Ihm schien die Hitze nichts auszumachen.
„Bei dem Verkehr werden wir lange brauchen, bis wir aus dem Zentrum raus sind“, sagte Hanna, als sie auf die verstopfteStraße blickte.
„Warte ab, du wirst gleich dein blaues Wunder erleben.“
Plötzlich blinkte eine gelbe Warnlampe auf dem Dach des vorderen Fahrzeugs. Als der Tross anfuhr, heulte eine Sirene auf. Die Menschen sprangen zur Seite, Autos wichen aus und fuhren an den Straßenrand. Der kleine Trupp schlängelte sich rücksichtslos durch den Verkehr, die Fahrer scheuten sich nicht, auch auf die Gehwege zu fahren. Passanten schreckten empört zurück.
„Mist. Keine Klimaanlage“, beschwerte sich Hanna. „Ich hoffe, das hier ist nicht unser Fahrzeug für die nächsten zwei Wochen.“
„Leider doch. Wir werden viel schwitzen.“
„Und das zu Weihnachten.“
„Sei froh“, sagte Robert grinsend. „Wir haben nur 85% Luftfeuchte. In der Regenzeit kommen die hier locker auf 100%.“
Hanna drehte die Seitenscheibe herunter und steckte den Kopf aus dem Fenster. Der Jeep vor ihr hielt direkt auf einen Bettler zu. Im letzten Augenblick konnte sich der alte Mann mit den kaputten Beinen in Sicherheit rollen. Er und einige der Männer, die zufällig dabeistanden, beschimpften den vorbei- fahrenden Konvoi.
„Die Soldaten fahren wie rücksichtslose Idioten“, schimpfte sie.
Robert nickte. Beißender Rauch zog Hanna in die Nase. Sie hustete und drehte die Seitenscheibe wieder hoch.
„Hier stinkt es wie auf einer Müllhalde.“
„Lagos ist eine Müllhalde.“
„Die wir bald hinter uns lassen.“
Für einige Minuten sagte keiner ein Wort. Hanna hing ihren Gedanken nach.
„Du siehst besorgt aus“, bemerkte Robert. „Gibt es Probleme?“
„Der Chefredakteur der Lagos-Tribune wollte mich davon überzeugen, die Reise zu verschieben.“
„Warum?“
„Der Waschlappen behauptet, dass es momentan zu gefährlich sei.“
„Kann es sein, dass der Waschlappen recht hat?“
„Quatsch! Es war von Anfang an klar, dass es kein Spaziergang wird. Nur Feiglinge bleiben zu Hause.“
Robert schaute sie lächelnd an. „Genauso kenn ich dich.“
Hanna erkannte Roberts gespielte Heiterkeit. Er war nervös. Hanna wollte es nicht zugeben, doch das traf auch auf sie zu. Sie kamen in der Kaserne an, stiegen vor einem flachen Ge- bäude aus. Soldaten lungerten im Schatten einer Fahrzeugkolonne.
„Wait“, befahl der Mann, der den Land Cruiser gefahren hatte. Er verschwand in dem Gebäude. Auch Hanna und Robert stiegen aus.
„Soll das unsere Eskorte sein?“, fragte Robert und zeigte auf die gepanzerten und bedrohlich wirkenden Fahrzeuge, die neben den Jeeps standen.
„Wir werden es gleich erfahren.“
Mit energischen Schritten kam ein Offizier herangeeilt. Er war groß, breitschultrig und wirkte bedrohlich. Direkt vor Hanna blieb er stehen, faltete seine Hände auf dem Rücken und musterte sie herablassend von oben bis unten. Hanna konnte seine Körperausdünstungen riechen. Sie wartete ab, während die Sonne unerträglich heiß auf ihren Kopf brannte.
„Hanna Engels und Robert Schäfer von der Frankfurter Presseschau?“
„Richtig. Wir freuen uns, dass …“
„Sie sind spät dran.“ Seine Stimme war laut und aggressiv. „Entschuldigung. Es ging nicht …“
„Ich bin Major Tayo Okete, Ihr Kindermädchen für die nächsten Wochen.“
„Guten Tag, Major Okete. Ich danke Ihnen sehr für Ihre wertvolle Mitarbeit.“
„Mitarbeit? Sie täuschen sich. Was Sie machen, interessiert mich einen Dreck. Mein Befehl lautet, Sie zu beschützen und wenn möglich, Kontakt zu den Rebellen herzustellen. Nicht weniger und auch nicht mehr werde ich tun. Haben wir uns verstanden?“
Hanna und Robert nickten.
„Wie sieht der Schutz aus?“, fragte Robert. Er lächelte wie so oft, schien von der bedrohlichen Gestalt des Majors nicht be- eindruckt zu sein.
Der Offizier starrte Robert an, überlegte anscheinend, ob er sich zu einer Antwort herablassen sollte. „Wir gehören zur 7.Division der nigerianischen Armee. Diese Division wurde erst vor Kurzem zum Kampf gegen die Rebellen aufgestellt und wir haben enorm starke Feuerkraft.“
„Dann kann uns ja nichts passieren“, sagte Hanna.
Der Major schüttelte verächtlich den Kopf. „Sie scheinen ja völlig ahnungslos zu sein. Passieren kann immer etwas. Vor allem hier in Nigeria. Vor allem, wenn wir zu den Rebellen fahren. Vor allem aber, wenn eine weiße Frau dabei ist.“
Der Schweiß lief nun in Strömen über ihr Gesicht. Na klasse. Das würde ein Vergnügen mit diesem Typen werden.
Der Major rief ein Kommando in seiner Landessprache. Die Soldaten sprangen auf, stellten sich vor den Fahrzeugen in einer Reihe hin.
„Das ist Ihre Eskorte. Fünfzehn Soldaten mit Kalaschni- kows. Und das da“, er zeigte auf die Fahrzeuge, „sind die bei- den Mannschaftstransporter Ottokar Cobra, jeweils mit einem Maschinengewehr ausgestattet. Auf dem Laster da hinten sind Munition, Diesel und die Ausrüstung fürs Camp. Der ERC-90 Sagaie Panzerwagen mit einer 90-mm-Kanone und den zwei Maschinengewehren ist unsere stärkste Waffe. Jedes Fahrzeug ist zusätzlich mit einem Granatwerfer ausgerüstet.“
Der Chefredakteur der Lagos-Tribune hatte Hanna vor einer Stunde zum Zweifeln gebracht. Doch nun, da sie die Bewaff- nung sah, fühlte sie sich sicher. Wer würde schon so bescheuert sein, solch eine wehrhafte Einheit anzugreifen?
„Aufsitzen!“, brüllte der Major. Die Soldaten rannten zu ihren Fahrzeugen.
„Sie werden mit mir in dem Land Cruiser fahren.“ Major Okete zeigte auf das Fahrzeug, mit dem sie hierhergekommen waren. Der Fahrer des Land Cruiser setzte sich ans Steuer, der Major auf den Beifahrersitz.
„Wie weit fahren wir heute?“, fragte Hanna.
Der Major schien die Frage nicht gehört zu haben.
„Wie weit fahren …?“
„Bis nach Owo. Dort übernachten wir in der Kaserne.“
„Wie weit ist das?“, fragte nun Robert.
„Dreihundert Kilometer. Dafür brauchen wir sechs Stunden.“
„Und morgen?“
„Morgen schaffen wir es bis Abuja. Dort wird unsere zweite und vorläufig letzte Nacht in einer Kaserne sein.“
Hanna nickte ihrem Freund zu, signalisierte ihm, weiter zu sprechen. Es hatte den Anschein, dass der Major eher bereit war, sich mit Robert zu unterhalten.
„Wo übernachten wir ab dann?“, fragte Robert.
„Im Busch, weil im Norden kaum noch Kasernen sind.“ „Wann kommen wir in Rebellengebiet?“
„Wir fahren nach Maiduguri, das liegt mittendrin. Bis dahin sind es 1700 Kilometer. Wir werden aber schon in den Städten davor versuchen, Kontakt zu den Rebellen aufzunehmen.“
„Woher wissen die Rebellen, dass wir in friedlicher Absicht kommen?“
„Wir werden Aufkleber mit dem Wort PRESSE an den Fahrzeugen anbringen. Außerdem wird sich unsere Anwesen- heit schnell rumsprechen. Wir werden die Informationen in den Cafés und auf den Plätzen der Orte verteilen. Wenn die Rebellen interessiert sind, werden sie sich zeigen.“
„Und wenn nicht?“
„Dann fahren wir wieder zurück.“
Der Konvoi setzte sich in Bewegung. Nach Norden zu den Boko Haram, das Gebiet des menschenverachtenden Irrsinns.

*

Das Wetter und die Umgebung änderten sich täglich. Die Luft war nicht mehr so feucht, die Bäume nicht mehr so hoch. Der Tropenwald wich ausgedehnter Savannenlandschaft.
Am vierten Tag fuhren sie von der befestigten Straße herun- ter. Auf dem trockenen Savannenweg zogen sie eine dichte Staubwolke hinter sich her.
„Hier könnten überall Rebellen sein“, sagte Robert.
„Ja, wir werden bestimmt bald auf sie treffen.“
„Hast du Angst?“
„Nein“, log Hanna. „Ich zähle auf unseren Pressestatus. Der garantiert uns Immunität.“
30 Kilometer östlich der Ortschaft Biriri bauten die Soldaten am Abend das Camp auf. Es war ihre vierte Nacht außerhalb von Lagos und ihre zweite im Busch.
Das Zelt für Hanna und Robert war geräumig und groß. Sechs Personen hätten darin bequem schlafen können. Drei Feldbetten dienten als Schlafgemach. Zwei für die Menschen, eines für die Kameraausrüstung und die beiden Reisetaschen. Über allen Betten hingen Moskitonetze. Eine schwere Zeltpla- ne diente als Fußboden, auf dem nichts liegen durfte. Zu viele Schlangen, Skorpione und sonstiges giftiges Getier.
Zum Abendessen trafen sie sich mit dem Major im Küchen- zelt. Die Seitenwände waren hochgerollt, es roch nach exoti- schen Gewürzen. Der Major saß bereits auf einem der drei Klappstühle, die um den Blechtisch aufgestellt waren. Die Sol- daten verteilten sich auf die beiden anderen Tische. Drei von ihnen waren immer als Wachposten eingeteilt.
„Was ist das?“, fragte Hanna den Koch, als sie mit ihrem Blechnapf an der Essenausgabe stand.
„Suya. Grillspieß mit Leber und Rindfleisch. Dazu gibt es Yamswurzeln, Tomaten und Mais.“
Sie setzten sich zu dem laut schmatzenden Offizier an den Tisch. Vorsichtig probierte Hanna von dem Essen. Sie wusste inzwischen, dass die Nigerianer scharf würzten.
„Wann werden wir auf die …?“
„Sie wissen längst, dass wir hier sind“, sagte der Major mit vollem Mund.
„Woher?“, fragte Robert.
Der Major würgte das Essen hinunter und schaute ihn kopf- schüttelnd an. „Wir sind nicht zu übersehen. Morgen fahren wir nach Biriri. Vielleicht treffen wir sie dort.“
Wie immer nach dem Essen räumte ein blutjunger Soldat in Windeseile den Tisch ab. Er lächelte Hanna scheu an. Der Jun- ge – sie schätzte ihn auf 16 Jahre – wurde oft von den anderen gehänselt. Er tat ihr leid.
Nach dem Abendessen verabschiedeten sich Hanna und Ro- bert. Einer der Wachsoldaten nickte ihnen dämlich grinsend zu, als sie in ihr Militärzelt verschwanden. Als Hanna ihr Safarihemd auszog, roch sie den Schweiß daran.
„Wir stinken wie die Schweine“, sagte sie.
„Kein Wunder. Seit zwei Tagen konnten wir nicht duschen und die Schüssel reicht nur für eine Katzenwäsche.“
Sie zogen ihre Stiefel aus und hängten sie an den Seilen an das Zeltgestänge. Nur so konnten sie einigermaßen sicher sein, dass kein giftiges Getier das Schuhwerk als Zuhause entdeckte. Ihre Kleidung packten sie in Plastiktüten auf das Feldbett mit der Ausrüstung. In kurzer Hose und T-Shirt legten sie sich auf die knarrenden Feldbetten. Hanna achtete darauf, dass ihr Moskitonetz lückenfrei auf dem Boden auflag.
Schon nach wenigen Minuten hörte sie Roberts leises, inzwi- schen vertrautes Schnarchen.
Obwohl Hanna müde war, wälzte sie sich lange auf dem schmalen Feldbett hin und her. Warum war sie so unruhig? Hanna konzentrierte sich auf die Geräusche der Nacht. Zwei Soldaten flüsterten vor dem Zelt. Ein Vogelschwarm flog schreiend weg, in der Nähe kreischten einige Affen. Irgend- wann schlief sie ein.

Am nächsten Morgen, dem 24. Dezember, zum Fest der Liebe, sollte der Wahnsinn Einzug halten.