Die Journalistin Hanna Engels lernt den Piloten Jens Bachmann kennen und lieben. Sie ahnt jedoch nicht, dass ein psychopathischer Auftragsmörder hinter ihr her ist. Er kommt ihr so nah, wie noch keinem seiner Opfer zuvor.
Mit dem Mainbook-Verlag aus Frankfurt erscheint am 7. Juli 2021 mein neuer Thriller »Herzschlag des Bösen«. Schonungslos wird darin die menschliche Psyche verdeutlicht. Bei Igor, meinem Antagonisten, vermische ich Genialität und Wahnsinn zu einem extrem gefährlichen Charakter, dem niemand im wirklichen Leben begegnen möchte.
Für die Realitätsnähe bekam ich intensive Unterstützung von Kriminalexperten und professionellen Hackern. Von den Schauplätzen in Los Angeles, Singapur und Campinas in Brasilien kann ich aus meiner Zeit als Pilot detailgetreu berichten, bei den Flugszenen und Hintergründen zum Leben eines Piloten kann ich aus dem Nähkästchen plaudern.
Die Geschichte spielt wieder auf internationaler Bühne, doch Frankfurt bildet das Zentrum.
Auch diesmal geht es um einen Piloten, allerdings ist nun die Journalistin Hanna Engels die Protagonistin. Auf einem Kongress lernt sie Kapitän Jens Bachmann kennen und lieben. Und sie ahnt nicht, dass ein psychopathischer Auftragskiller hinter ihr her ist.
Igor Poljakow, ein Experte der Tarnung und Täuschung, führt ein perfektes Doppelleben. Hinter dem Deckmantel seines offiziellen Berufes mordet er auf der ganzen Welt. Seine Spezialität ist gleichzeitig seine Leidenschaft. Er liebt es, Menschen bis zum letzten Atemzug grausam zu foltern. Igor glaubt, sich an sein früheres Leben zu erinnern. Vor 400 Jahren wurde er als Kind zu Tode gefoltert und er ist überzeugt, dass nun seine Seele im Körper von Igor wohnt. Und in Hanna Engels erkennt er die Nonne von damals. Die Frau, die für seinen Foltertod verantwortlich war.
Die Rache wird zu seinem Lebensinhalt und die Jagd auf Hanna Engels wird sein Meisterwerk. Dabei kommt er ihr so nah wie noch keinem seiner Opfer zuvor.

Taschenbuch
270 Seiten
MainBook-Verlag
Juli 2021
ISBN-10: 3948987076
ISBN-13: 978-3948987077
Leseproben
Australien, Dienstag, 14. Dezember 2013
Wie immer kurz vor dem Finale war Igor Poljakow berauscht von diesem archaischen Trieb des Tötens. Seine Hände zitter- ten vor Erregung, als er die App auf dem Smartphone öffnete. Der rot blinkende Punkt des GPS-Trackers bewegte sich zügig auf ihn zu, sie mussten jeden Augenblick auftauchen. Igor spähte hinter dem Eukalyptusbaum nach vorne auf den Costal Drive. Mit der offenen Handfläche schirmte er seine zusammengekniffenen Augen gegen die tiefstehende Sonne ab und erkannte in der Ferne das Wohnmobil mit der Zielperson.
Als sie kurz vor der Abzweigung abbremsten, drückte Igor sich eng an den Baum. Er spürte die glatte Rinde an seiner Stirn, roch den schwachen Duft des Holzes. Die feuchtwarme Luft seines Atems prallte zurück in sein Gesicht.
Das Wohnmobil bog keine 20 Meter vor ihm auf den Buschweg ab. Als es beschleunigte, zog es eine rote Staubfahne hinter sich her.
In einem Kilometer Entfernung endete die Sackgasse auf dem verlassenen Parkplatz in der Nähe des Ufers. Dort war der wilde Übernachtungsplatz, und genau dort wollte Igor sie haben.
Grace Parker, Abgeordnete aus dem britischen Unterhaus, und ihre achtzehnjährige Tochter Emily waren in die Falle gegangen.
Der Auftrag bezog sich nur auf die Mutter, die kleine Göre war Beifang. Doch Igor würde auch den Schmerz der Tochter bis zu ihrem letzten Atemzug auskosten.
Sobald sie außer Sichtweite waren, stellte er die beiden gelben Schilder an der Abzweigung auf. Road Closed stand auf den Schildern. Niemand sollte sie stören.
Der Pick-up Truck war keine 50 Meter entfernt hinter Büschen versteckt. Auf die beiden Seitentüren hatte Igor die großen runden Folien geklebt. Rangerpatrol stand im unteren Halb- rund darauf, ein Koala dominierte die Mitte des Logos.
Igor tauschte sein verschwitztes T-Shirt gegen das khakifarbene Hemd. Ein Rangerabzeichen zierte die Außenseiten der Kurzärmel, auf dem Namensschild über der linken Brusttasche stand Clark Hunter.
Von einem tiefhängenden Ast rupfte er ein Eukalyptus-Blatt ab, zerrieb es und leckte seine Finger ab, sie schmeckten bitter. Ganz anders als der Geschmack von Blut.
Aus dem roten Rucksack zog er die 9 Millimeter Mark 3 Pistole hervor, lud sie durch und steckte sie wieder zurück ins Frontfach. Die Waffe brauchte er nur für den unwahrscheinli- chen Fall, dass die Highway Patrol auftauchen sollte. Für die beiden Opfer reichten einfache Werkzeuge, die er im Baumarkt in Melbourne gekauft hatte. Ein scharfes Teppichmesser mit Ersatzklingen, eine Kombizange, eine kräftige Astschere für die Knochen, Schraubendreher, ein 300 Gramm schwerer Hammer und Draht zum Fesseln. Das silbergraue, reißfeste Klebeband und die kleingeschnittenen Putzlappen würden als Knebel dienen. Auf der Ladefläche war ein 20-Liter-Kanister mit Brandbeschleuniger festgezurrt. Wenn morgen früh die Sonne aufging, würde auch der Wohnwagen in Flammen aufgehen. Weder DNA noch sonstige Spuren würden zurückbleiben.
Mit langsamer Geschwindigkeit fuhr er los und wenige Minuten später tauchte das Wohnmobil mutterseelenallein zwischen den Bäumen auf. Im Hintergrund glitzerte das Meer, die Sonne war fast vollständig abgetaucht. Vereinzelte Bäume warfen lange Schatten.
Ein schöner Platz zum Sterben.
Igor parkte neben dem Wohnmobil, stieg aus und schwang den Rucksack lässig über die Schulter. Das rhythmische Meeresrauschen erinnerte ihn an den Applaus für ein beginnendes Theaterstück. Eine Möwe flog kreischend über die Fahrzeuge. Wollte sie die Opfer warnen? Was für ein belustigender Gedanke.
Fröhliches Lachen erklang aus dem Wohnmobil. Das erregte Zittern seiner Hände hatte aufgehört. Igor wurde ganz ruhig wie der Jäger, bevor er abdrückte.
Er klopfte an die Tür.
„Ja?“
„Rangerpatrol.“
Die Tür schwang auf.
Grace war nicht schön. Zu groß für eine Frau und zu dick, aber sie hatte ein weiches Gesicht. Igor überlegte, wo er nach- her das Teppichmesser ansetzten sollte.
„Sorry, Madam“, sagte Igor lächelnd. „Mein Name ist Clark Hunter, ich bin Ranger und werde gleich wieder weg sein.“
„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Grace lächelte zurück.
„Wollen Sie hier übernachten?“
„Ja. Ich hoffe, das ist kein Problem.“
„Überhaupt nicht. Wir Ranger wollen nur wissen, auf welche Besucher wir aufpassen müssen.“
„Das ist sehr nett von Ihnen, Mister Hunter. Meine Tochter und ich sind zum Urlaub in Australien. Wir fahren mit dem Wohnmobil bis nach Sydney.“
„Wie haben Sie diesen schönen Platz gefunden?“
„Wurde uns empfohlen. Wir wollten auf dem Campingplatz vor San Remo übernachten. Doch der ist voll, sagte uns ein Mitarbeiter von Wind-Camper vor einer Stunde am Handy. Er hat uns diesen wunderbaren Platz empfohlen.“
Igor nickte. Er war der Anrufer gewesen, hatte Call-ID- Spoofing genutzt. Auf ihrem Handydisplay hatte Grace den Kontakt und die Festnetznummer des Reisemobil-Vermieters gesehen.
Die 18-jährige Tochter stellte sich an die Seite ihrer Mutter. „Hallo Ranger.“
„Hallo junge Dame. Willkommen in meinem Revier.“ „Danke.“
„Ich will nicht lange stören, möchte nur noch gerne Ihre Ausweise sehen. Danach müssen wir immer fragen.“
„Ja natürlich.“ Grace verschwand im Wohnmobil.
„Wollen Sie sich die Tiere bei uns ansehen?“, fragte Igor die junge Frau. Er hatte sich schon vor zwei Wochen in die Computer der beiden eingehackt und wusste, dass die Tochter auf diesem Urlaub unbedingt Koalas und Kängurus sehen wollte.
„Ja“, sagte sie begeistert. „Hier in Victoria sollen die Koalas bis zu 14 Kilogramm schwer werden.“
„Das stimmt. Bei uns gibt es die größten Koalas von ganz Australien. Das feuchte, gemäßigte Klima ist ideal für die Burschen.“
Grace kam mit den Ausweisen zurück und reichte sie Igor. Er schaute sie interessiert an. Wegen der Fingerabdrücke machte er sich keine Sorgen. Das Feuer würde gründliche Ar- beit leisten. Igor hätte die beiden schon längst überwältigen können, doch er liebte das Katz- und Mausspiel.
„Frau Parker, ich muss Sie leider noch um eine Gebühr von 20 $ bitten.“
„Ich wusste nicht, dass wir zahlen müssen.“
„Tut mir leid, ist ne neue Regelung. Aber …“, Igor tat so, als würde er überlegen. „… da Sie das ja nicht wussten, brauchen Sie diesmal nicht zu zahlen.“
„Oh. Sie sind sehr nett. Vielen Dank, Herr Hunter.“
Igor winkte ab. „Kein Problem. Wir möchten doch, dass Sie sich bei uns wohlfühlen. Und falls Sie morgen früh die größten Koalas von ganz Australien sehen wollen, habe ich sogar einen Geheimtipp für Sie.“
Mutter und Tochter schauten sich mit freudigem Erstaunen an. „Wir möchten unbedingt die Koalas sehen“, sagte Grace.
Igor nickte zufrieden. „Vor einer Woche haben wir eine neue Gruppe Koalas ausgesetzt. Gar nicht weit weg von hier, keine zehn Minuten zu fahren. Das wäre auch ein guter Platz zum Frühstücken.“
„Das ist ja wunderbar.“
„Kein Tourist weiß bisher davon.“
„Wo?“ Die Tochter konnte es anscheinend kaum erwarten. Aus der Seitentasche seiner Hose zog Igor lächelnd eine Karte und zeigte umständlich mit dem Finger darauf.
„Hier unten.“ Die Karte knickte weg, so war natürlich nichts zu erkennen, zudem war es inzwischen zu dunkel dazu. „Kommen Sie doch bitte herein“, sagte Grace. „Auf dem Tisch können Sie die Karte ausbreiten und uns die Stelle genau zeigen.“
„Gerne, Madam.“
Sie und ihre Tochter strahlten übers ganze Gesicht. Das würde sich gleich ändern.
Igor stieg die zwei Stufen hoch in das Wohnmobil. Dort setz- te er den Rucksack ab, legte die Karte auf den Tisch und klopf- te mit dem Zeigefinger auf eine markierte Stelle. Sie beugten sich aufgeregt darüber. Es war schon fast enttäuschend ein- fach. Igor schlug ihre Köpfe mit Wucht zusammen. Sie torkel- ten beide, ein unterdrückter Schrei der Tochter. Igor schlug seine Faust auf ihre Schläfe, sie sackte zu Boden. Zeitgleich riss Mama ihr Maul auf, setzte zum Schreien an. Igor knallte seinen Ellenbogen unter ihr Kinn. Auch sie ging zu Boden.
Der Spaß konnte beginnen.
Nigeria, 19. Dezember 2013
„Sie sind verrückt.“ Kobe Ayodele, Chefredakteur der Lagos- Tribune, schüttelte entsetzt seinen Kopf.
„Nein, ich bin Journalistin“, sagte Hanna genervt.
„Das ist den Rebellen egal. Auf keinen Fall dürfen Sie jetzt in den Norden fahren.“
„Es ist schon entschieden. Wir werden uns noch heute auf den Weg machen.“
Ayodele schüttelte den Kopf. „Verschieben Sie die Sache.“ „Warum sollte ich das tun?“
Ayodele lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und sprach in wohlwollendem Ton weiter.
„Vor einer Woche wurde Saleh Ibrahim, der Anführer von Boko Haram, erschossen.“
„Ich bin über die Vorgänge informiert.“
„Seine Nachfolge ist nicht geklärt, die Situation ist außer Kontrolle geraten.“
„Wann war die Situation jemals unter Kontrolle?“
„Für eine Frau ist es im Moment im Rebellengebiet extrem gefährlich.“
„Für eine Frau? Also gut. Dann gehen Sie eben zu den Re- bellen und machen die Reportage.“
„Ich bin doch nicht wahnsinnig. Die Boko Haram schlagen Köpfe und Hände ab.“
„Gerade deswegen muss ich dort hin. Nur so kann ich den unterdrückten Frauen helfen.“
Ayodele schüttelte verständnislos den Kopf. „Mit einer Re- portage werden Sie die Rebellen nicht aufhalten.“
„Ich nicht, aber vielleicht die UN oder die nigerianische Ar- mee. Dazu muss aber zuerst die Öffentlichkeit von dem Problem wissen. Die Welt darf keine Chance haben, wegzuschauen. Mit meinen Beweisen setze ich die Politik unter Druck.“
„Sie glauben tatsächlich, Sie können am Schicksal der Frauen etwas ändern.“
„Ja. Verdammt nochmal. Ja!“ Hanna beugte sich nach vorne. „Oder haben Sie eine bessere Idee?“
„Es nutzt niemandem, wenn auch Sie verscharrt werden.“
„Wir stehen unter dem Schutz einer waffenstrotzenden Militäreskorte. Uns wird nichts passieren.“
„Das ist ein trügerischer Schutz. Fast täglich wird inzwischen auch das Militär von den Rebellen angegriffen.“
Hanna fühlte den klebrigen Schweiß unter ihren Achseln. „Warum schalten Sie die Klimaanlage nicht an?“
„Stromausfall. Schon wieder. Der Generator reicht nur für die Kommunikationsgeräte.“
Hanna strich sich die Haare hinters Ohr zurück. „Jedes Jahr werden Hunderte junge Mädchen von den Rebellen ver- schleppt und zwangsverheiratet. Die Mädchen werden vergewaltigt, zu Terrorsoldaten abgerichtet oder zu Selbstmordattentaten gezwungen. Die Welt muss …“
„Ich weiß, Miss …“
„Die Welt muss von den Gräueltaten der islamistischen Ext- remisten erfahren. Ich muss handeln, sofort. Mit meiner Reportage werde ich die Politiker zum Handeln zwingen.“
„Ohne Ihren Kopf werden Sie niemanden zwingen.“
„Wir sind nicht die Feinde der Rebellen, sie werden kein Interesse an unserem Tod haben.“
„Das hier ist nicht Deutschland. In Nigeria herrschen andere Regeln.“
„Wir wollen die Rebellen ja nicht angreifen, sondern nur mit ihnen reden.“ Hanna stieß frustriert die Luft aus.
„Die Boko Haram töten Sie vielleicht trotzdem.“
„Ach ja? Und warum sollten sie das tun?“
„Weil sie es können.“
Für einen Augenblick war Hanna irritiert. Sie schaute den Chefredakteur ungläubig an. „Blödsinn.“
„Oder man verschleppt Sie. Europäer sind beliebte Geiseln. Lösegeld war schon immer eine gute Option.“
„Deswegen haben wir die eingenähten GPS-Minisender.“
„Die Ihnen aber nur helfen, wenn Sie Ihren Kopf noch auf den Schultern tragen.“
Was für ein Feigling. Am liebsten hätte Hanna dem Chefredakteur den Hals umgedreht. „Sie hatten mir am Telefon Ihre Unterstützung zugesagt.“
Ayodele fuhr sich mit der Hand über sein krauses Haar. „In einem Monat sieht es bestimmt besser aus. Warten Sie noch ab.“
„Das ist unmöglich.“
„Warum?“
„Der stellvertretende Innenminister Mister Nwobeabia hat eine Bedingung gestellt.“
„Eine Bedingung kann man nur stellen, wenn man im Gegenzug etwas bietet.“
„Die Eskorte ist umsonst.“
Ayodeles’ Kinnlade klappte auf. „Was? Sie sagten mir doch noch vor einem Monat am Telefon, dass die Militäreskorte eine Million US$ kostet.“
„Stimmt. Doch mein Chefredakteur hätte dem niemals zugestimmt. Ich habe immer wieder bei Mister Nwobeabia nachgebohrt. Letztendlich hat er eingesehen, dass mein Artikel auch für Nigeria von großem Vorteil sein könnte.“
„Was ist die Bedingung?“
„Der Einsatz muss innerhalb von vier Wochen abgeschlossen sein. Von diesem Ultimatum ist schon über eine Woche verstrichen. Ich habe also keine Zeit zu verlieren, wenn ich die Eskorte umsonst haben will.“
„Miss Engels. Das stinkt zum Himmel. Hier in Nigeria macht niemand etwas umsonst.“
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein hochrangiger Politiker oder das Militär uns den Rebellen ausliefern werden.“
„In Nigeria ist alles möglich.“
„Mister Ayodele, stehen Sie zu Ihrem Wort und helfen Sie mir?“
Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Schweißränder waren auf dem weißen Hemd unter seinen Achseln zu sehen. Er musterte sie kritisch und schien zu überlegen.
Das Tischtelefon klingelte.
„Augenblick.“ Ayodele nahm den Hörer ab und sprach in seiner Landessprache.
Hanna lief zum Fenster, stieß es weit auf. Der heiße Wind wehte ihr ins Gesicht. Monatelang hatte sie für ihren Plan ge- kämpft. Ihr Chefredakteur zu Hause in Frankfurt war strikt dagegen gewesen. Viel zu gefährlich, viel zu teuer, hatte er im- mer wieder gesagt. Doch Hanna hatte ihren Willen durchge- setzt. Nichts und niemand konnte sie noch aufhalten. Wenn nötig, würde sie die Sache eben ohne die Hilfe von Kobe Ayodele durchziehen. Zum Teufel mit ihm.
Der Straßenlärm weckte Hannas Neugier. Aus dem fünften Stock hatte sie einen guten Überblick. Hupende Autos kämpften sich in Schrittgeschwindigkeit durch die verstopften Straßen, ein empörter Fahrer machte seinem Ärger lautstark Luft. Überall lag Müll. In einem Graben war eine Leitung aufgebrochen. Wasser sprudelte, Kinder spielten in dem Schlammloch. Zwischen den schreienden Straßenhändlern, den schimpfenden Passanten und den bettelnden Kindern sah Hanna Frauen in schönen bunten Kleidern. Es stank nach süßlicher Fäulnis, die Stimmung war chaotisch und aggressiv. Doch von der Bedrohung durch die Rebellen war hier in Lagos nichts zu spüren.
Drei Militärfahrzeuge kamen angefahren und stoppten vor dem Gebäude. Robert stieg aus dem mittleren Jeep. Hanna pfiff laut durch die Finger. Er schaute zu ihr hoch, lächelte, winkte und klopfte auf seine Uhr. Bestimmt ging es den Solda- ten zu langsam. Hanna nickte und zeigte den Daumen.
Sie hatte ihren alten Schulfreund Robert Schäfer zu dieser Reise überredet. Er war selbstständiger Fotograf und hoffte, durch die Story seinen Bekanntheitsgrad zu steigern.
Als Ayodele das Telefongespräch beendet hatte, ging Hanna mit zügigen Schritten zum Schreibtisch zurück und stützte ihre Hände in die Hüften.
„Mister Ayodele, wenn Sie mir Ihre zugesagte Unterstützung verweigern, wird es umso gefährlicher für mich und meinen Kameramann. Aber ich lasse mich weder umstimmen noch aufhalten. Nun frage ich Sie ein letztes Mal. Werden Sie zu Ihrem Wort stehen?“
Er schaute sie mit großen Augen an.
„Ja“, sagte er schließlich. „Ich stehe dazu. Meine Redaktion ist 24/7 besetzt und damit wird auch der GPS-Empfänger und das Satellitentelefon rund um die Uhr überwacht.“
Hanna nickte zufrieden. „Danke.“
„Vertrauen Sie nicht dem Militär“, warnte Ayodele. „Einige Offiziere sind korrupt.“
„Ich weiß. Deswegen ist es mir ja wichtig, der Presse die Überwachung zu überlassen. Wie wir schon besprochen hatten, melden wir uns jeden Abend um 18 Uhr über Satellitentelefon.“
„Und wenn wir nichts von Ihnen hören, informieren wir den Oberst, den stellvertretenden Innenminister und die deutscheBotschaft.“
„Genau.“ Erleichtert zog Hanna das GPS-Empfängergerät und das Satellitentelefon aus dem Rucksack und gab die Sachen dem Chefredakteur. „Wie Sie sehen, sind wir gut vorbereitet.“
„Miss Engels, Sie haben keine Ahnung von Nigeria.“
*
Kurz darauf traf sich Hanna in der Eingangshalle mit Robert. „Hat alles geklappt?“, fragte sie.
„Ja. Die Soldaten haben mich vom Hotel abgeholt. Ausrüstung und Gepäck sind eingeladen.“
„Nur drei Autos? Soll das die ganze Eskorte sein?“
„Nein. Der Rest des Konvois wartet in der Kaserne. Der Major ist stinksauer, sagen die Soldaten. Der Umweg über die Zeitungsredaktion war nicht eingeplant gewesen.“
Hanna zuckte mit den Schultern. „Es ging nun mal nicht an- ders. Der Chefredakteur hatte erst jetzt Zeit für mich.“
„Überwacht er die GPS-Sender und das Telefon?“
„Ja.“
Ein Soldat kam zu ihnen geeilt. „Hurry up.“
Hanna und Robert folgten ihm nach draußen. In ihrer Buschkleidung unterschieden sie sich nicht allzu sehr von den Soldaten. Beide trugen sie beigefarbene Cargohosen und tarnfarbene langärmlige Hemden.
„Es war eine bescheuerte Idee von mir, die Kampfstiefel heute schon anzuziehen.“ Hanna fühlte den Schweiß an ihren Füßen. „Auf Schlangen werden wir in Lagos kaum treffen.“
„Wahrscheinlich nicht.“ Robert grinste. Ihm schien die Hitze nichts auszumachen.
„Bei dem Verkehr werden wir lange brauchen, bis wir aus dem Zentrum raus sind“, sagte Hanna, als sie auf die verstopfteStraße blickte.
„Warte ab, du wirst gleich dein blaues Wunder erleben.“
Plötzlich blinkte eine gelbe Warnlampe auf dem Dach des vorderen Fahrzeugs. Als der Tross anfuhr, heulte eine Sirene auf. Die Menschen sprangen zur Seite, Autos wichen aus und fuhren an den Straßenrand. Der kleine Trupp schlängelte sich rücksichtslos durch den Verkehr, die Fahrer scheuten sich nicht, auch auf die Gehwege zu fahren. Passanten schreckten empört zurück.
„Mist. Keine Klimaanlage“, beschwerte sich Hanna. „Ich hoffe, das hier ist nicht unser Fahrzeug für die nächsten zwei Wochen.“
„Leider doch. Wir werden viel schwitzen.“
„Und das zu Weihnachten.“
„Sei froh“, sagte Robert grinsend. „Wir haben nur 85% Luftfeuchte. In der Regenzeit kommen die hier locker auf 100%.“
Hanna drehte die Seitenscheibe herunter und steckte den Kopf aus dem Fenster. Der Jeep vor ihr hielt direkt auf einen Bettler zu. Im letzten Augenblick konnte sich der alte Mann mit den kaputten Beinen in Sicherheit rollen. Er und einige der Männer, die zufällig dabeistanden, beschimpften den vorbei- fahrenden Konvoi.
„Die Soldaten fahren wie rücksichtslose Idioten“, schimpfte sie.
Robert nickte. Beißender Rauch zog Hanna in die Nase. Sie hustete und drehte die Seitenscheibe wieder hoch.
„Hier stinkt es wie auf einer Müllhalde.“
„Lagos ist eine Müllhalde.“
„Die wir bald hinter uns lassen.“
Für einige Minuten sagte keiner ein Wort. Hanna hing ihren Gedanken nach.
„Du siehst besorgt aus“, bemerkte Robert. „Gibt es Probleme?“
„Der Chefredakteur der Lagos-Tribune wollte mich davon überzeugen, die Reise zu verschieben.“
„Warum?“
„Der Waschlappen behauptet, dass es momentan zu gefährlich sei.“
„Kann es sein, dass der Waschlappen recht hat?“
„Quatsch! Es war von Anfang an klar, dass es kein Spaziergang wird. Nur Feiglinge bleiben zu Hause.“
Robert schaute sie lächelnd an. „Genauso kenn ich dich.“
Hanna erkannte Roberts gespielte Heiterkeit. Er war nervös. Hanna wollte es nicht zugeben, doch das traf auch auf sie zu. Sie kamen in der Kaserne an, stiegen vor einem flachen Ge- bäude aus. Soldaten lungerten im Schatten einer Fahrzeugkolonne.
„Wait“, befahl der Mann, der den Land Cruiser gefahren hatte. Er verschwand in dem Gebäude. Auch Hanna und Robert stiegen aus.
„Soll das unsere Eskorte sein?“, fragte Robert und zeigte auf die gepanzerten und bedrohlich wirkenden Fahrzeuge, die neben den Jeeps standen.
„Wir werden es gleich erfahren.“
Mit energischen Schritten kam ein Offizier herangeeilt. Er war groß, breitschultrig und wirkte bedrohlich. Direkt vor Hanna blieb er stehen, faltete seine Hände auf dem Rücken und musterte sie herablassend von oben bis unten. Hanna konnte seine Körperausdünstungen riechen. Sie wartete ab, während die Sonne unerträglich heiß auf ihren Kopf brannte.
„Hanna Engels und Robert Schäfer von der Frankfurter Presseschau?“
„Richtig. Wir freuen uns, dass …“
„Sie sind spät dran.“ Seine Stimme war laut und aggressiv. „Entschuldigung. Es ging nicht …“
„Ich bin Major Tayo Okete, Ihr Kindermädchen für die nächsten Wochen.“
„Guten Tag, Major Okete. Ich danke Ihnen sehr für Ihre wertvolle Mitarbeit.“
„Mitarbeit? Sie täuschen sich. Was Sie machen, interessiert mich einen Dreck. Mein Befehl lautet, Sie zu beschützen und wenn möglich, Kontakt zu den Rebellen herzustellen. Nicht weniger und auch nicht mehr werde ich tun. Haben wir uns verstanden?“
Hanna und Robert nickten.
„Wie sieht der Schutz aus?“, fragte Robert. Er lächelte wie so oft, schien von der bedrohlichen Gestalt des Majors nicht be- eindruckt zu sein.
Der Offizier starrte Robert an, überlegte anscheinend, ob er sich zu einer Antwort herablassen sollte. „Wir gehören zur 7.Division der nigerianischen Armee. Diese Division wurde erst vor Kurzem zum Kampf gegen die Rebellen aufgestellt und wir haben enorm starke Feuerkraft.“
„Dann kann uns ja nichts passieren“, sagte Hanna.
Der Major schüttelte verächtlich den Kopf. „Sie scheinen ja völlig ahnungslos zu sein. Passieren kann immer etwas. Vor allem hier in Nigeria. Vor allem, wenn wir zu den Rebellen fahren. Vor allem aber, wenn eine weiße Frau dabei ist.“
Der Schweiß lief nun in Strömen über ihr Gesicht. Na klasse. Das würde ein Vergnügen mit diesem Typen werden.
Der Major rief ein Kommando in seiner Landessprache. Die Soldaten sprangen auf, stellten sich vor den Fahrzeugen in einer Reihe hin.
„Das ist Ihre Eskorte. Fünfzehn Soldaten mit Kalaschni- kows. Und das da“, er zeigte auf die Fahrzeuge, „sind die bei- den Mannschaftstransporter Ottokar Cobra, jeweils mit einem Maschinengewehr ausgestattet. Auf dem Laster da hinten sind Munition, Diesel und die Ausrüstung fürs Camp. Der ERC-90 Sagaie Panzerwagen mit einer 90-mm-Kanone und den zwei Maschinengewehren ist unsere stärkste Waffe. Jedes Fahrzeug ist zusätzlich mit einem Granatwerfer ausgerüstet.“
Der Chefredakteur der Lagos-Tribune hatte Hanna vor einer Stunde zum Zweifeln gebracht. Doch nun, da sie die Bewaff- nung sah, fühlte sie sich sicher. Wer würde schon so bescheuert sein, solch eine wehrhafte Einheit anzugreifen?
„Aufsitzen!“, brüllte der Major. Die Soldaten rannten zu ihren Fahrzeugen.
„Sie werden mit mir in dem Land Cruiser fahren.“ Major Okete zeigte auf das Fahrzeug, mit dem sie hierhergekommen waren. Der Fahrer des Land Cruiser setzte sich ans Steuer, der Major auf den Beifahrersitz.
„Wie weit fahren wir heute?“, fragte Hanna.
Der Major schien die Frage nicht gehört zu haben.
„Wie weit fahren …?“
„Bis nach Owo. Dort übernachten wir in der Kaserne.“
„Wie weit ist das?“, fragte nun Robert.
„Dreihundert Kilometer. Dafür brauchen wir sechs Stunden.“
„Und morgen?“
„Morgen schaffen wir es bis Abuja. Dort wird unsere zweite und vorläufig letzte Nacht in einer Kaserne sein.“
Hanna nickte ihrem Freund zu, signalisierte ihm, weiter zu sprechen. Es hatte den Anschein, dass der Major eher bereit war, sich mit Robert zu unterhalten.
„Wo übernachten wir ab dann?“, fragte Robert.
„Im Busch, weil im Norden kaum noch Kasernen sind.“ „Wann kommen wir in Rebellengebiet?“
„Wir fahren nach Maiduguri, das liegt mittendrin. Bis dahin sind es 1700 Kilometer. Wir werden aber schon in den Städten davor versuchen, Kontakt zu den Rebellen aufzunehmen.“
„Woher wissen die Rebellen, dass wir in friedlicher Absicht kommen?“
„Wir werden Aufkleber mit dem Wort PRESSE an den Fahrzeugen anbringen. Außerdem wird sich unsere Anwesen- heit schnell rumsprechen. Wir werden die Informationen in den Cafés und auf den Plätzen der Orte verteilen. Wenn die Rebellen interessiert sind, werden sie sich zeigen.“
„Und wenn nicht?“
„Dann fahren wir wieder zurück.“
Der Konvoi setzte sich in Bewegung. Nach Norden zu den Boko Haram, das Gebiet des menschenverachtenden Irrsinns.
*
Das Wetter und die Umgebung änderten sich täglich. Die Luft war nicht mehr so feucht, die Bäume nicht mehr so hoch. Der Tropenwald wich ausgedehnter Savannenlandschaft.
Am vierten Tag fuhren sie von der befestigten Straße herun- ter. Auf dem trockenen Savannenweg zogen sie eine dichte Staubwolke hinter sich her.
„Hier könnten überall Rebellen sein“, sagte Robert.
„Ja, wir werden bestimmt bald auf sie treffen.“
„Hast du Angst?“
„Nein“, log Hanna. „Ich zähle auf unseren Pressestatus. Der garantiert uns Immunität.“
30 Kilometer östlich der Ortschaft Biriri bauten die Soldaten am Abend das Camp auf. Es war ihre vierte Nacht außerhalb von Lagos und ihre zweite im Busch.
Das Zelt für Hanna und Robert war geräumig und groß. Sechs Personen hätten darin bequem schlafen können. Drei Feldbetten dienten als Schlafgemach. Zwei für die Menschen, eines für die Kameraausrüstung und die beiden Reisetaschen. Über allen Betten hingen Moskitonetze. Eine schwere Zeltpla- ne diente als Fußboden, auf dem nichts liegen durfte. Zu viele Schlangen, Skorpione und sonstiges giftiges Getier.
Zum Abendessen trafen sie sich mit dem Major im Küchen- zelt. Die Seitenwände waren hochgerollt, es roch nach exoti- schen Gewürzen. Der Major saß bereits auf einem der drei Klappstühle, die um den Blechtisch aufgestellt waren. Die Sol- daten verteilten sich auf die beiden anderen Tische. Drei von ihnen waren immer als Wachposten eingeteilt.
„Was ist das?“, fragte Hanna den Koch, als sie mit ihrem Blechnapf an der Essenausgabe stand.
„Suya. Grillspieß mit Leber und Rindfleisch. Dazu gibt es Yamswurzeln, Tomaten und Mais.“
Sie setzten sich zu dem laut schmatzenden Offizier an den Tisch. Vorsichtig probierte Hanna von dem Essen. Sie wusste inzwischen, dass die Nigerianer scharf würzten.
„Wann werden wir auf die …?“
„Sie wissen längst, dass wir hier sind“, sagte der Major mit vollem Mund.
„Woher?“, fragte Robert.
Der Major würgte das Essen hinunter und schaute ihn kopf- schüttelnd an. „Wir sind nicht zu übersehen. Morgen fahren wir nach Biriri. Vielleicht treffen wir sie dort.“
Wie immer nach dem Essen räumte ein blutjunger Soldat in Windeseile den Tisch ab. Er lächelte Hanna scheu an. Der Jun- ge – sie schätzte ihn auf 16 Jahre – wurde oft von den anderen gehänselt. Er tat ihr leid.
Nach dem Abendessen verabschiedeten sich Hanna und Ro- bert. Einer der Wachsoldaten nickte ihnen dämlich grinsend zu, als sie in ihr Militärzelt verschwanden. Als Hanna ihr Safarihemd auszog, roch sie den Schweiß daran.
„Wir stinken wie die Schweine“, sagte sie.
„Kein Wunder. Seit zwei Tagen konnten wir nicht duschen und die Schüssel reicht nur für eine Katzenwäsche.“
Sie zogen ihre Stiefel aus und hängten sie an den Seilen an das Zeltgestänge. Nur so konnten sie einigermaßen sicher sein, dass kein giftiges Getier das Schuhwerk als Zuhause entdeckte. Ihre Kleidung packten sie in Plastiktüten auf das Feldbett mit der Ausrüstung. In kurzer Hose und T-Shirt legten sie sich auf die knarrenden Feldbetten. Hanna achtete darauf, dass ihr Moskitonetz lückenfrei auf dem Boden auflag.
Schon nach wenigen Minuten hörte sie Roberts leises, inzwi- schen vertrautes Schnarchen.
Obwohl Hanna müde war, wälzte sie sich lange auf dem schmalen Feldbett hin und her. Warum war sie so unruhig? Hanna konzentrierte sich auf die Geräusche der Nacht. Zwei Soldaten flüsterten vor dem Zelt. Ein Vogelschwarm flog schreiend weg, in der Nähe kreischten einige Affen. Irgend- wann schlief sie ein.
Am nächsten Morgen, dem 24. Dezember, zum Fest der Liebe, sollte der Wahnsinn Einzug halten.
Aschaffenburg, 17.03.2014
„Es wird Zeit für meine Rede.“
Federico gab Hanna einen flüchtigen Kuss auf die Wange, stand auf und schaltete das Ansteck-Mikrofon an seinem Revers ein.
Mit einem Siegeslächeln schaute er sie an, nickte geheimnisvoll und schritt majestätisch zum Podest. Lässig stieg er die vier Stufen auf die Bühne und schaute hinunter in die klatschende Menge. Er sah hinreißend aus in seinem schwarzen Maßanzug mit dunkler Fliege über dem weißen Hemd. Passend dazu trug er eine teure Uhr von Glashütte Original am Handgelenk. Er legte Wert auf Stil. Nur die beste Kleidung war gut genug für ihn. Die maßgefertigten Schuhe hatte er in Madrid gekauft. ‚Lift-Schuhe‘ mit verstecktem Plateau, die ihn größer machten, als er war.
Bald bin ich ihn los!, dachte Hanna genervt.
Der Kameramann hatte klare Anweisung, ihn immer im Fokus zu halten. Eine große Leinwand und mehrere kleinere Bildschirme stellten sicher, dass jeder der Anwesenden ihn bewundern konnte. Wie ein König stand Federico mit erhobenem Kinn auf der Bühne und starrte in die Menge. Die lauten Unterhaltungen verstummten, 450 Menschen richteten ihren Blick erwartungsvoll auf die Bühne. Er sagte nichts, stand einfach nur da. Mit seinem abwartenden Verhalten bündelte er die Aufmerksamkeit noch stärker auf sich. Es war eine perfekt inszenierte Show und er stand im Mittelpunkt. Er liebte solche Auftritte und die Menge war fasziniert von ihm. Sie kannten ihn gut genug und wussten, dass heute Abend etwas für sie herausspringen würde. Neben den Angestellten waren auch die wichtigsten Geschäftspartner und die Presse anwesend. Das abgelaufene Geschäftsjahr war das Beste in der Firmengeschichte des italienischen Familienunternehmens. Das hatte auch damit zu tun, dass Federico seit dem Tod seines Vaters freie Hand hatte. Zu dem historischen Gewinn kam noch ein langfristiger Auftrag, der über viele Jahre ähnlich gute Gewinne erwarten ließ.
Vereinzelt war noch leises Getuschel zu hören. Mit erhobener Hand forderte der Firmenchef absolute Ruhe.
„Liebe Geschäftsfreunde, liebe Mitarbeiter …“
Der begnadete Rhetoriker sprach vom Erfolg, von der exzellenten Unternehmenskultur und er lobte herausragende Mitarbeiter.
Hanna war nicht an der Rede interessiert. Ihre Gedanken kreisten um ein völlig anderes Thema.
Ich gehöre nicht hierher. Nicht an diesen Ort und nicht an seine Seite. Wie konnte ich es nur so lange mit ihm aushalten? Morgen werde ich es ihm sagen.
„Liebe Firmenfamilie, …“ er machte eine kurze Sprechpause. Hannas Aufmerksamkeit wurde wieder auf die Rede gelenkt.
„Ich wette … das, was Sie jetzt gleich von mir zu hören bekommen, wird Ihnen ausgesprochen gut gefallen.“
Die Mitarbeiter starrten gebahnt auf ihn. Die neugierige Erwartung im Saal war spürbar.
Federico schaltete sein Mikro am Revers aus, stieg von Podium, ging lächelnd zu Hanna und flüsterte in ihr Ohr.
„Sie lieben und vergöttern mich. Schau dir genau an, was gleich passieren wird.“
Mit dynamischen Schritten sprang er, zwei Stufen auf einmal nehmend, zurück aufs Podest und schaltete sein Mikro wieder ein. Die Stille im Saal war erdrückend.
„Aufgrund der hervorragenden Leistungen aller Beteiligten habe ich mich entschlossen …“, er lächelte sie wieder an. „… Habe ich mich entschlossen, jedem Mitarbeiter eine Prämie von eintausend Euro für jedes Jahr Betriebszugehörigkeit zu zahlen.“
Die Mitarbeiter sprangen auf und tobten vor Freude. Der Beifall wollte nicht enden. Viele Angestellte waren schon seit über 20 Jahren dabei.
Federico wusste seine Mitarbeiter zu motivieren und er war bereit, viel dafür zu bezahlen. Hanna war beeindruckt von seiner Großzügigkeit. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihm morgen den Laufpass geben würde.
Federico verbeugte sich lächelnd vor der Belegschaft, was erneut mit tosenden Applaus quittiert wurde. Er sonnte sich in seiner Popularität. Mit wippenden Händen machte er eine beschwichtigende Geste, die Menschen setzten sich wieder.
Jeder wartete auf die Schlussworte, doch es kam etwas völlig Unerwartetes. Seine Stimme änderte sich, sie wurde weich und leise.
„Was ich jetzt zu sagen habe, hat nichts mit der Firma zu tun.“
Federicos Gesicht war in Großaufnahme auf den Leinwänden zu sehen. Hatte er etwa eine Träne im Augenwinkel? Federico war wirklich ein verdammt guter Schauspieler.
Seine Stimme erhob sich leicht.
„Es geht um etwas, was mir persönlich sehr wichtig ist.“
Federicos Augen waren plötzlich auf Hanna fixiert. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Oh Gott! Er wird doch nicht … Nervös strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Dabei bemerkte sie, dass ihre Haare dafür eigentlich noch zu kurz waren.
Er stieg zum zweiten Mal zu ihr hinab, rückte einen Stuhl geräuschvoll zur Seite, nahm ihre Hand, wollte sie hochziehen. Hanna hielt dagegen.
„Komm schon, Schatz“, sagte er.
„Nein. Ich will hier sitzen bleiben.“
„Keine Sorge, du kannst mir vertrauen.“
Mit beiden Händen zog er sie hoch. Hanna wusste gar nicht, dass er so kräftig war. Er führte sie aufs Podium. Um die Situation nicht noch peinlicher zu machen, lief sie widerwillig mit. Hanna kämpfte mit sich. Sollte sie sich aus seinen Griff befreien, zurücklaufen? Doch sie wollte ihn nicht erniedrigen. Warum zur Hölle hatte sie nur zugestimmt, heute Abend hier zu sein?
Sie standen auf der Bühne, er hielt ihre Hand fest umklammert. Wie durch einen Nebel hörte sie seine Worte, die er an die Gäste richtete.
„Wie Sie ja alle wissen,“ sein Ton wieder sanft und weich, „sind Hanna und ich seit einiger Zeit ein Paar.“ Federico küsste sie auf die Stirn. Es war ganz leise im Saal.
Er zog eine kleine Schachtel aus seiner Jackentasche. Hanna spürte die Schweißtropfen auf ihrer Stirn.
Oh Gott! Lass dass bitte einen Albtraum sein.
Federico kniete vor ihr nieder und klappte die Schachtel auf. Zwei
goldene Ringe, besetzt mit Diamanten, funkelten sie an.
„Meine geliebte Hanna, willst du meine Frau werden?“, sagte er laut ins Mikrofon. Jeder konnte es hören.
Ihr Hals wurde trocken, sie schluckte schwer. Warum war es nur so heiß in dem Saal?
Panisch schaute sie in die Menge. 450 erwartungsvolle Gesichter starrten sie an. Der Kameramann stand seitlich neben ihr und projizierte eine Großaufnahme von ihr und Federico auf die Leinwand. Sogar die Schweißperlen auf ihrem Gesicht waren zu sehen. Sie sah auch auf der Leinwand, wie sie schon wieder ihre imaginäre Haarsträhne hinters Ohr strich.
Zuversichtlich lächelnd kniete Federico vor ihr, nickte auffordernd mit einem Seitenblick auf die Ringe.
Er war Sizilianer. Wenn sie seinen Antrag hier vor all den Menschen ablehnte, würde sie ihn bis auf die Knochen blamieren.
Soll ich nachgeben?
Die Gäste wurden ungeduldig, tuschelten. Federicos Gesichtsausdruck änderte sich. Die Zuversicht wurde Ärger, war da auch Wut?
Er deckte sein Mikro mit der Hand ab. „Warum brauchst du so lange für ein Ja-Wort?“, sagte er. Sie hörte Zorn in seiner Stimme. Etwas Bedrohliches lag in der Luft.
Nördlich von Frankfurt, Sonntag, 30.03. 2014
Frankfurt, 28. April 2014
Fast Neumond. Die Nacht war stockfinster. In dem schwarzen Overall verschmolz Igor mit dem Gebüsch. Die leichte Anspannung schärfte seine Sinne. Der herbe Geruch des Busches strömte in seine Nase, er spürte die Blätter auf seinem Gesicht. Eine Frau lachte in der Nähe, eine Autotür wurde zugeschlagen. Aus der Ferne erklang das leise Dauerbrummen der Autobahn. Ein Flugzeug war im Anflug. Es hatte wohl Verspätung, denn es war bereits nach 23 Uhr und die Nachtflugbeschränkung am Frankfurter Flughafen war aktiv.
Er nahm sein Handy und öffnete die Tracking-App. Sie zeigte die Position der Wanze an dem Fahrzeug. Zusätzlich überprüfte er die Handy-Ortung. Weit genug weg. Zufrieden nickte Igor. Er würde den Innenangriff ungestört durchführen können.
Lautlos schlich er weiter.
Über die Außenkamera, die Igor vor über einer Woche im Garten installiert hatte, konnte er sehen, dass die Tür zur Terrasse immer nur zugezogen, aber nie abgeschlossen wurde. Es war wie eine Einladung.
An dem Zaun hielt er inne. Das Gebäude lag keine zwanzig Meter vor ihm im Dunkeln. Igor schmiss den schwarzen Rucksack über den Zaun. Mühelos zog er sich an dem Pfosten hoch und geschmeidig setzte er auf der anderen Seite im Gras auf. Im Weiterlaufen griff er nach seinem Rucksack.
Im Nachbarhaus wurde mit lautem Scheppern das Rollo heruntergelassen. Igor kannte auch diese Bewohner inzwischen fast so gut wie die Zielperson. Die vierköpfige Nachbarsfamilie durchlebte eine schlimme Zeit. Vor allem die beiden Teenager heulten Rotz und Wasser. Ihr geliebter Labrador war vor zwei Tagen qualvoll verreckt. Vergiftet. Welch bösartiger Mensch konnte so etwas Grausames tun? Igor schmunzelte. Tja, das Leben konnte scheiße sein. Jetzt musste er nicht mehr fürchten, dass der Köter anschlug.
Inzwischen war Igor fast im Sensorbereich des Bewegungsmelders für das Außenlicht angekommen. Er duckte sich hinter den Holzstapel, zog die Laserpistole und die Nachtsichtbrille mit zuschaltbarer Infrarotbeleuchtung aus dem Rucksack. Der 200 Milliwatt Visierstrahl würde mit bloßem Auge nicht zu sehen sein. Er stülpte sich das Nachtsichtgerät über, zielte und drückte ab. Der Laserstrahl brannte im Bruchteil einer Sekunde ein kleines Loch in das transparente Plastikgehäuse der Außenlampe. Die Glühlampe dahinter zerbarst in einem leisen ‚Plopp‘.
Während er zur Terrasse schlich, zog er die Handschuhe über. Sie waren so dünn, dass sie sich wie eine zweite Haut anschmiegten und die Bewegungen kaum einschränkten. Aus dem Rucksack holte er die Teleskopleiter, zog sie aus und lehnte sie an die Fassade.
Die vier Stufen reichten, um bequem an die Wandlampe zu kommen. Er stellte die eingebaute Lupenfunktion seiner Nachtsichtbrille auf zweifache Vergrößerung. Mit einem Schraubendreher löste er die beiden Schrauben des Gehäuses und nahm den Lampenschirm ab. Der Ministaubsauger, mit dem er die Glassplitter der zerschossenen LED-Lampe aufsaugte, arbeitete fast geräuschlos. Igor setzte eine Lampe ein, deren Glühdraht schon durchgebrannt war, und holte den gebrauchten Lampenschirm einer baugleichen Außenlampe aus dem Rucksack. Über eBay hatte er das Ersatzteil gekauft. Niemand würde nun erkennen, dass die Glühlampe zerschossen wurde.
Nachdem er das Nachtsichtgerät im Rucksack verstaut hatte, klopfte und streifte er seinen Overall gründlich ab. Mögliche Reste von Gras und Blätter sollten nachher nicht zu finden sein. Er presste die gehärtete und geplättete Titannadel zwischen Türblatt und Rahmen im Bereich des Schließzylinders. Gefühlvoll drückte er mit der abgewinkelten Nadel den Schnapper zurück ins Türblatt. Die Tür schwang auf. Bevor er eintrat, holte er die dünnen Ledermokassins aus dem Rucksack und wechselte die Schuhe. Auf weichen Sohlen schlich er hinein. Er installierte die winzigen Spionagekameras, die kaum größer waren als eine Knopfbatterie. In jedem Rauchmelder versteckte er eine. Um die Batterien zu schonen, würden die Kameras nur bei Bewegung aufzeichnen und somit erst in zwei bis drei Monaten den Geist aufgeben. Bis dahin sollte alles vorbei sein. Eine Kamera versteckte er im Lampenschirm der Deckenlampe und eine weitere in der Wandlampe. Er versteckte auch drei Wanzen. Zwei davon sahen aus wie ein Kugelschreiber, davon lagen genug herum. Das dritte Aufzeichnungsgerät platzierte er in dem digitalen Wecker. Nach weiteren zehn Minuten hatte er auch den zweiten Teil seiner Mission beendet und arbeitete seine mentale Checkliste ab.
Habe ich alles, was ich brauche?
Ist alles wieder an seinem Platz?
Sind die Wanzen und Kameras einsatzbereit?
Keine Spuren hinterlassen?
Alles eingepackt?
Leise schlüpfte Igor durch die Terrassentür nach draußen. Er wechselte die Schuhe, kletterte über den Zaun und ging zurück zu seinem Wagen.
Als er einige Zeit später an seinem Schreibtisch saß, öffnete er Laptop Nummer 1 und notierte den Einbruch in sein elektronisches Tagebuch.
Es war eine aufregende Jagd. Noch nie war Igor seiner Beute vor dem Finale so nahegekommen.
Er klappte den Laptop zu und lehnte sich zufrieden zurück. Die Vorbereitungen waren nun abgeschlossen. Zwei Komponenten gingen Hand in Hand. Überwachung und Täuschung. Wie eine Katze spielte er mit der Beute.
In diesem Video »recherchiere« ich die Möglichkeiten einer Flucht mit platten Reifen: